von Sabine Brandes
Kaum eine Ecke, an der nicht gebuddelt und gebaut wird. Jerusalem macht sich bereit für ein neues Verkehrsmittel. Gerade erst ist mit der Saitenbrücke der erste Streckenabschnitt fertiggestellt worden. Die Straßenbahn, »leichter Zug« genannt, soll das Leben der Städter verbessern, Erleichterung und Entspannung bringen. Die Bauarbeiten sind noch lange nicht beendet. Am vergangenen Mittwoch, dem zweiten Tag der israelischen Sommerferien, attackierte ein arabischer Bauarbeiter für die Straßenbahn Autos und Busse mit einem Bulldozer. Er tötete dabei drei Israelis und verletzte mehr als 40 weitere. Behörden und Politik sprechen von Terrorismus.
Der Lenker des tonnenschweren Bau-
fahrzeuges, ein 30-jähriger Mann aus Ost-
jerusalem, wählte seine Opfer willkürlich. Mit voller Geschwindigkeit fuhr er auf der Jaffastraße, einer Hauptverkehrsader Jeru-
salems, hin und her, zerquetschte Autos mit seiner Schaufel und warf Busse um. Eine Mutter konnte ihr Baby gerade noch aus dem Fenster des Wagens werfen und retten, bevor sie selbst getötet wurde. Gna-
denlos machte der Mann Jagd auf ah-
nungslose Passanten und überrollte sie.
Mehrere Polizisten und Sicherheitsleute versuchten verzweifelt, den Bulldozer zu stoppen. Mosche Plasser, Soldat der Golani-Einheit, schaffte es, auf das Fahrzeug zu springen und gemeinsam mit dem Polizisten Eli Mizrachi den Angreifer mit mehreren Schüssen zu töten. Kommissar Dudi Cohen bescheinigte beiden »eindrucksvolle Entschlossenheit, den Angreifer zu stellen«.
Es sei wie in einem Film gewesen, er-
zählten Passanten nach dem Anschlag. Eine Familie berichtet im Internet, wie sie die Attacke überlebte: Rick Eissenstat, Neueinwanderer aus den USA, war mit seiner Familie auf dem Weg ins Museum, als ganz plötzlich verängstigte Arbeiter aus der Baustelle flüchteten. Bruchteile von Sekunden später sah er den Bulldozer auf sich zu bewegen und versuchte rückwärts zu flüchten, doch andere Fahrzeuge blockierten ihn. Es gab kein Entkommen: »Das rechte Rad zerquetsche ein Taxi, das linke Rad rollte über uns. Ich dachte immer nur, wie kriege ich meine Familie hier raus?« Anschließend legte der Täter den Rückwärtsgang ein, um noch einmal über den Mazda der Eissenstats zu fahren. »Ich sah ihn an, und er sah uns an. Doch uns ist nichts geschehen, wir wurden aus unerfindlichen Gründen beschützt«, ist Eissenstat sicher. Obwohl die Schaufel auch noch das Dach des Pkw demolierte, blieben die Vier unverletzt. »Gott hat ihn uns einfach nicht töten lassen.«
Sofort nach dem Anschlag wurde die gesamte Stadt in Alarmzustand versetzt. Polizeichef Micki Rosenfeld erklärte, dass »der Terrorist im Besitz eines israelischen Personalausweises« gewesen sei und sich frei in der Stadt bewegen konnte. Er war bei der Baugesellschaft für die Straßenbahn beschäftigt. Vorherige Warnungen gab es nicht, höchstwahrscheinlich handelt es sich um einen Einzeltäter. Und genau das macht die Situation noch be-
drohlicher. Sicherheitsexperten erklärten im Fernsehen, dass man nach diesem Angriff nicht einfach zur Tagesordnung übergehen dürfe, sonst sei die Gefahr von Nachahmungstätern zu groß. Doch wie auch immer die Prävention aussehen mag, Einzeltäter sind kaum zu stoppen, auch da sind sich die Experten einig.
»Ja, ich habe Angst«, gibt Schira Edri, Studentin in Jerusalem, unumwunden zu. »Es war eine Weile ruhig hier, ich habe mich eigentlich ganz wohl gefühlt. Jetzt aber gruselt es mich, an den Baustellen mit den arabischen Arbeitern vorbeizugehen. Ich weiß doch nicht, ob wieder einer Juden töten will und mich mit seiner Hacke erschlägt oder dem Bulldozer überfährt. Das ist ein grässliches Szenario und lässt mich sicher für sehr lange Zeit nicht ruhig über die Straßen gehen.«
Angst oder nicht – die Bauunternehmer sind auf die palästinensischen Arbeiter an-
gewiesen und die Arbeiter auf die Jobs, um für ihren ohnehin oft kargen Lebens-
unterhalt zu sorgen. Jerusalem, die Stadt, in der Araber und Juden Seite an Seite und doch selten in friedlicher Koexistenz le-
ben, hat eine neue Gefahrenquelle: den Straßenrand.