Von allen Persönlichkeiten in der Tora können und sollen wir etwas lernen. Eben deshalb berichtet sie uns von ihnen. Sie dienen uns als Vorbilder, sei es für unsere Beziehung zu anderen Menschen oder sei es G’tt gegenüber.
Die meisten biblischen Gestalten dienen uns als positive Vorbilder. Bei einigen jedoch gilt es zu lernen, wie wir uns nicht verhalten sollen. Korach ist ein solches negatives Vorbild. Die Tora beschreibt seinen unersättlicher Machthunger und seine Demagogie, seine Arroganz und versteckte Verlogenheit. Eine Eigenschaft jedoch können wir von Korach und seiner Bande lernen. Es ist eine Eigenschaft, die der biblische Text versteckt zum Ausdruck bringt, die aber sehr zentral ist und uns etwas äußerst Grundlegendes und Wichtiges über das ganze jüdische Volk beibringen kann.
volk Der biblische Text nennt das jüdische Volk einerseits »Am«, andererseits »Eda«. Diese zwei Bezeichnungen beschreiben zwei ganz unterschiedliche Seiten des jüdischen Volkes. Wenn die Zusammengehörigkeit des Volkes ausgedrückt werden soll, die durch die gemeinsame, oft feindliche Umgebung entsteht, wird das jüdische Volk »Am Jisrael« genannt. Das erste Mal in seiner Geschichte wird es in Ägypten als »Am« bezeichnet, ganz zu Beginn der Unterdrückung und Versklavung durch Pharao. Er warnte sein Volk, die Ägypter: »Siehe, Am Bnej Jisrael, die Nachkommen Ja- akows, sind ein Volk, größer und mächtiger als wir« (2. Buch Moses 1,9). Pharao nahm dies zum Vorwand, die Israeliten zu verfolgen und zu unterdrücken.
»Am« ist verwandt mit dem hebräischen Wort »im«, das »mit« und »zusammen mit« bedeutet. Dies zeigt, dass ein »Am« dadurch entsteht, dass es zusammen, miteinander ist, durch die gemeinsame Umgebung, die gemeinsamen Feinde, ein gemeinsames Schicksal. »Am« heißt, ein »Volk« wird von außen definiert, ohne eigenes Zutun.
gemeinschaft »Eda« ist das Gegenteil. Es bezeichnet das jüdische Volk als eine Gemeinschaft, die sich durch gemeinsame Inhalte und Ziele selbst definiert. Erst nachdem das jüdische Volk zum ersten Mal einen Befehl G’ttes erhalten hatte, nennt es die Tora »Eda« (2. Buch Moses 12,3). Denn »Eda« drückt aus, dass das Volk nicht nur deshalb zusammengehört, weil alle Angehörigen verfolgt werden, sondern »Eda« heißt: Diese Volksgemeinschaft ist durch göttliches Gesetz miteinander verbunden – ein Gesetz, das das Volk auch nach der Befreiung durch einen gemeinsamen Lebensweg und gemeinsame Werte verbinden wird.
»Am« verweist auf die gemeinsame Vergangenheit, »Eda« auf die gemeinsame Zukunft. Und da das jüdische Volk einerseits eine gemeinsame Vergangenheit hat und andererseits eine gemeinsame Zukunft haben will, wird es sowohl als »Am« als auch als »Eda« bezeichnet.
minjan Das Wort »Eda« ist auch auf halachischem Gebiet von Bedeutung. Die Gemara (Brachot 21b und Megilla 23b) lernt daraus, dass eine Betergemeinschaft, ein Minjan, aus mindestens zehn Männern bestehen muss. Daraus, dass die Kundschafter als »Eda« bezeichnet werden (4. Buch Moses 14,27), ist ersichtlich, dass zu einer »Eda« mindestens zehn Männer gehören. Und ein Vers aus den Psalmen (82,1) zeigt, dass Gott sich in einer »Eda« findet. Doch erst von Korach und seiner »Eda« (4. Buch Moses 16,21) lernt die Gemara, dass das Wort eine Gemeinschaft bezeichnet, die zusammengehört und miteinander verbunden ist und dadurch eine Einheit bildet.
zusammengehörigkeit Wir lernen also von Korach, was es heißt, eine »Eda« zu sein. Denn bei ihm sehen wir, dass eine Gemeinschaft, die sich für ein gemeinsames Ziel einsetzt, als »Eda« bezeichnet wird. Wir lernen von ihm, dass wir als Volk erst dann eine »Eda« sind, wenn wir gemeinsame Ziele haben, die uns zu innerer Zusammengehörigkeit und Verbundenheit führen, und dass wir uns als Volk erst dann selbst definieren und unsere gemeinsame Zukunft garantieren können, wenn es uns gelingt, gemeinsame Werte und Inhalte zu entwickeln und zu verfolgen.
Bemerkenswert dabei ist natürlich, dass die Gemara bereit ist, all dies ausgerechnet von Korach zu lernen. Dies zeigt uns, wie differenziert die jüdische Bibelexegese mit den Persönlichkeiten der Tora umgeht. Bei der Interpretation des biblischen Textes wird nicht schwarz-weiß gemalt: Genauso wie sich die mündliche Tradition nicht scheut, die positiven Vorbilder zu kritisieren, ist sie bereit, Positives bei den sogenannten negativen Vorbildern zu entdecken. So lernen wir von Korach und seiner rebellischen Bande, dass wir für eine gemeinsame Zukunft als Volk bereit sein müssen, vereint für unsere Ziele zu kämpfen.