Architekt Hansjörg Maier ist im Terminstress. Er steht neben der kleinen Eingangstreppe des alten Hauses und trifft letzte Absprachen mit Handwerkern. Die linke Hand hat er in der Tasche seiner Jeans vergraben, in der rechten hält er eine Zigarette. Seit Monaten ist die Baustelle sein zweites Zuhause. Bis zu acht Mal täglich läuft er eiligen Schrittes von seinem Büro, durch die Heidelberger Landfriedstraße und biegt an der Ecke zur Hausnummer zwölf zielstrebig nach links ab. Seine Beine würden den Weg wohl auch alleine finden.
Wer jedoch eher zufällig durch die Heidelberger Altstadt schlendert und die Bli- cke über die prunkvollen historischen Häuserfronten wandern lässt, könnte sein
Kleinod fast übersehen. So transparent, beinahe zierlich wirkt, das neue Haus der Hochschule für Jüdische Studien. Der Neubau liegt etwas abseits der Straße, umgeben von kleinen Gärten, und schmiegt sich von hinten an ein prunkvolles Gründerzeitgebäude, das schon seit geraumer Zeit zur Hochschule gehört.
Stilmix »Das Umfeld machte die Planung zu einer echten Herausforderung«, erin-
nert sich der Architekt und balanciert über die provisorische Bretterbrücke in der Zu-
fahrt. Zur Straßenseite hin ein Gründerzeitbau, der 1903 als Reichsbank eröffnete. Auf der anderen Seite, nach hinten hinaus, der Gewölbekeller eines Turnierhauses aus dem frühen 17. Jahrhundert. Beide Bauten stehen unter Denkmalschutz. Keine Frage: Hier ein Ensemble aus historischer Bausubstanz und modernem Anbau zu kreieren, erfordert viel Fingerspitzengefühl.
Maier hat die Aufgabe galant gelöst. Nicht ohne Grund nennen ihn die Heidelberger – liebevoll und anerkennend zu-gleich – den »Altstadtmaier«. Denn in den 30 Jahren seines Wirkens hat sein Büro mehr als 60 Prozent der Altstadt saniert – und sich dabei mit so manchem denkmalgeschützten Haus auseinandergesetzt.
In seiner Machart ist der Neubau ein einfaches Stahlbetonskelett mit filigraner, gläserner Vorhangfassade. Eine breite Treppe führt hinab zum Eingang, der ein paar Stufen unterhalb der Zufahrt liegt. Hinter der Sicherheitsschleuse teilt sich der Weg: Rechts geht es hinunter zur Cafeteria und links nach oben auf eine großzügige Fläche mit Sitzgruppen, von der weitere Gänge und Türen abzweigen. Auch wenn hier alles sehr geräumig ist – dass der Bau rund 2.000 Quadratmeter Nutzfläche bietet, ist für den Besucher von diesem Blickwinkel aus nicht zu erahnen.
Das liegt an der verschachtelten Struktur des Gebäudes. Kein Raum gleicht dem anderen und hinter jeder Ecke warten neue Gänge, Treppen und Zimmer darauf, entdeckt zu werden. »Wir mussten einen Anschluss zwischen dem Altbau und dem tiefer liegenden Kellergewölbe entwerfen«, erklärt Architekt Maier die gestaffelte Bauweise. So gibt es denn auch kein zentrales Treppenhaus – sondern eine breite Treppe in den ersten Stock, die auf einer offenen Fläche mündet und sich dann in Gänge und weitere Treppen verzweigt.
Auf der linken Seite liegt der Eingang zur Bibliothek, die sich über drei Stockwerke erstreckt und in deren Untergeschoss das Zentralarchiv zur Erforschung der Ge-
schichte der Juden in Deutschland sein neues Zuhause findet. Hier ist auch der Ausgang zum Lesehof, der mit Bänken und Pflanzen zum Verweilen einlädt.
Im rechten Flügel schließen sich Seminar- und Vorlesungsräume an, außerdem Büros und Dozentenzimmer. Der größte Hörsaal fasst mehr als 50 Personen, denn auch von der Universität kommen gelegentlich Studierende zu ausgewählten Veranstaltungen. Besonders stolz ist die Hochschule auf ihr Beth Midrasch. »Endlich haben wir einen geeigneten Raum, um auch größere Gottesdienste zu feiern«, freut sich Hochschul-Rabbiner Shaul Friberg. »Vorher gab es das nicht an der Hochschule.« Ebenfalls neu sind die drei Gästewohnungen, zu denen eine Stahltreppe an der Rückseite des Gebäudes hinaufführt.
Sicherheit Die Außenwände eines jeden Raums im rechten Flügel sind vom Fußboden bis zur Decke verglast und geben den Blick frei ins Grüne und auf die historischen Fassaden der umliegenden Wohnhäuser. »Vierfaches Sicherheitsglas«, erläutert der Fachmann, »eine Scheibe wiegt rund 600 Kilogramm«. Die mussten die Bauarbeiter auch noch selbst hoch tragen, denn für einen Kran fehlte der Platz.
»Wir haben sowohl die eigentliche Konstruktion als auch die Innenausstattung bewusst schlicht gehalten und auf Schnörkel verzichtet«, erklärt Architekt Maier weiter. Schon aus Kostengründen wollte er keinen »Protzbau« entwerfen, sondern ein Gebäude, das funktionell für den Betrieb der Hochschule geeignet ist. Blauer Teppich, weiße Wände – das sind die Farben des Hochschulemblems. Auch einzelne Fensterscheiben sind blau gefärbt. Klare Formen und Linien bestimmen die Architektur.
Atmosphäre Seinen ganz eigenen Charme hat der Gewölbekeller. Zahlreiche kleine Nischen mit Sitzgruppen bieten an der Frontseite der historischen Sandsteinmauern Platz zum Lernen, Lesen, Plaudern und Kaffeetrinken. Die Luft ist angenehm kühl hier unten. Innen sind die Wände der Cafeteria geweißt, was den Raum groß und hell wirken lässt. In den Boden eingelassene Leuchten verstärken den Eindruck und schaffen eine gemütliche Atmosphäre. Der Saal ist durch eine Faltwand getrennt, sodass auch große Veranstaltungen mit bis zu 150 Personen stattfinden können. An der Stirnseite schließt sich die Ausgabetheke der koscheren Küche an. Mächtige Stahlträger an der Decke halten die Mauern zusammen. Eine Vorsichtsmaßnahme, denn die Wände drohten zu Beginn der Bauarbeiten fast auseinanderzubrechen.
Rektorat, Verwaltung und Dozentenzimmer sind künftig in den historischen Mauern der Landfriedstraße 12 zu finden. Ein Gang im ersten Stockwerk verbindet das neue Gebäude mit dem Altbau. Damit sind alle Bereiche der Hochschule in einem Ensemble vereint – zum ersten Mal seit knapp drei Jahrzehnten. Ziemlich genau 30 Jahre ist es nämlich her, dass die ersten 16 Studenten ihr Studium an der Heidelberger Hochschule aufnahmen. Damals reichte eine angemietete Wohnung für Forschung und Lehre aus. Mit den Jahren ka- men immer mehr Studierende und Räume hinzu, bis das Institut schließlich auf vier Standorte in der Altstadt verteilt war. So ist es nicht erstaunlich, dass Professoren, Mitarbeiter und Studierende nun dem »Ende von 30 Jahren räumlichen Improvisierens« regelrecht entgegenfiebern.
Rabbiner Shaul Friberg ist einer von ihnen. Schon vor Wochen hat er seine Siebensachen in Kisten verstaut und alles für den Umzug vorbereitet. Er sei aufgeregt »wie ein kleines Kind ein paar Tage vor seinem Geburtstag«, gesteht er und berichtet mit leuchtenden Augen von seinem neuen Büro. Das Zimmer sei sehr geräumig und durch die Glasfronten außergewöhnlich hell und einladend. »Das Beste jedoch ist, dass ich die Tür zumachen kann und Ruhe habe«, sagt er mit einem Zwinkern. In seinem Job als Seelsorger sei diese Option sehr wichtig.
Wer »Altstadtmaier« nach seinen Lieblingsplätzen in der neuen Hochschule fragt, der erntet ein breites Grinsen: »Ich finde alles toll. Jede Ecke und jedes Zimmer.« Es sei das erste Mal, dass er ein Ge-
bäude für eine jüdische Institution geplant habe. »Ich habe viel gelernt, etwa über die Kultur und die Religion. Aber auch, dass die Baustelle an Freitagnachmittagen und Samstagen geschlossen sein muss.« Diese Erkenntnis habe seinen Zeitplan anfangs etwas durcheinandergeworfen. Zur ge-
planten Eröffnung am 30. September ist das Gebäude dann aber doch fertig geworden. Eine gelungene Symbiose von Tradition und Moderne, wie Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, bereits bei der Grundsteinlegung im April 2008 feststellte: »Der Neubau verbindet die Tradition jüdischen Lernens und Lehrens mit der Zukunft – auch baulich.«