Plötzlich brüllt ein Mann aus dem Publikum: »Jude!« Gerade hat der Intendant des Fürther Stadttheaters im Foyer zu einer Rede über die Geschichte des Hauses und die Verdienste der »jüdischen Mitbürger« um die Finanzierung des Baus angesetzt. Gerade hat man begonnen, auf dem sicheren Boden des Beschaulich-Historischen, des oft Gehörten und Wohlbekannten Fuß zu fassen, da ist schon wieder Schluss mit behaglicher Theaterstimmung. Die Wahrnehmung ist wieder geschärft, in erhöhter Alarmbereitschaft sozusagen, so wie kurz zuvor beim Einlass.
irritierend Nett aber bestimmt haben junge Damen die etwa 60 Zuschauer aufgefordert, über die beiden Seitentreppen nach oben zum Foyer zu gehen. Dort hat eine Frau die Karten kontrolliert, schön und gut, aber sie hat auch irritierende Bemerkungen gemacht. Zum Beispiel: »Eine große Tasche tragen Sie da. Haben Sie die selbst gepackt?« –Manch so Gefragter ist davon derart verdattert gewesen, dass er lange brauchte, um dann zögerlich »äh, ja« zu stammeln. Könnte ja sein, dass die falsche Antwort unangenehme Folgen hat. Und dann die Farben! Nach der Kartenkontrolle haben die Damen von unten die Eintrittskarten grün oder rot gekennzeichnet und so das Publikum in zwei Gruppen sortiert. Die Assoziationskette um die Begriffe »Auslese« und »Deportation« ist gezündet worden, als letzte Stufe rauscht die Frage »Nehme ich hier an einem Psycho-Experiment teil?« durchs Hirn. Und jetzt: »Jude!« Auch das noch! Tickt nun der Erste aus?
ratlos»Was soll denn das jetzt?«, fragt eine Frau. »Es tut mir leid. Ich, ich wollte niemanden beschimpfen, aber er soll einfach mal ›Jude‹ sagen und nicht immer dieses ›jüdische Mitbürger‹«, verteidigt sich der Störer. Es entwickelt sich ein Dialog darüber, was die (politisch) korrekte Benennung für Juden sei. Der ist zu ausgefeilt, um seine Inszenierung zu verbergen. Aber die Frau, die plötzlich rausrennt und schreit: »Ich kann das nicht mehr hören!« Das könnte auch die spontane Reaktion einer Zuschauerin gewesen sein. Diese Frage, was denn nun echt und was inszeniert ist, zieht sich durch den kompletten »theatralen Streifzug« des Regisseurs und Autors Christian Schidlowsky auf der Suche nach dem aktuellen jüdischen Leben in Fürth. Und wenn sie sich auch in den allermeisten Szenen irgendwann beantwortet, ein Rest Unsicherheit bleibt.
wahrnehmung Sie sei keine Nazi-Braut, auch wenn sie im Stadion »die Juden soll man vergasen« gebrüllt habe. Denn das sei nicht so gemeint. Juden hießen halt die Gegner, weil die Juden immer Opfer seien, behauptet das Fan-Mädel von der »Szene Fürth«, dem Hardcore-Fanclub der Spielvereinigung Greuther Fürth. Ist das eine Schauspielerin, oder spielt sie sich selbst?
Die Wahrnehmung ist hypersensibilisiert, während man in der Gruppe durch die Fürther Innenstadt wandert und von den Passanten begafft wird. Exponiert fühlt man sich, und wie ein Tourist in der eigenen oder doch wenigstens wohlbekannten Stadt. Die Szenen, die offensichtlich inszeniert sind, wechseln sich ab mit überraschenden Begegnungen unterwegs. Dass die »jüdische Mamme«, die im Saal der Israelitischen Kultusgemeinde in einem Jiddisch, das phrasiert ist wie türkischer Street-Slang, erklärt, was koscher ist, von einem Schauspieler dargestellt wird, ist so klar wie die Gemüsesuppe mit Mazzeknödeln, die sie dem Publikum serviert. Aber es wird auch hier nicht alles aufgelöst. Welche Fragen aus dem Publikum sind abgesprochen und kommen von inkognito auftretenden Laienschauspielern, und welche kommen tatsächlich spontan? Bemerkenswert bleibt die Frage, ob gentechnisch veränderte Lebensmittel koscher sind. Darauf weiß auch der eigens herbeigeholte Rabbiner der Gemeinde keine Antwort.
satire In der Fußgängerzone taucht plötzlich der »professionelle Versöhnungsjude« auf. Der Mann bietet lautstark an, »mir gegen eine kleine Spende erbarmungswürdig in die Augen zu schauen, mich versöhnungsheischend am Oberarm zu berühren, oder mir wohlwollend die Hand zu schütteln und mir Ihr Herz auszuschütten«. Der Text ist pure Satire, aber der Mann könnte echt sein. Und so geht der Streifzug weiter. Inhaltlich verdichtet sich alles mehr und mehr auf die Frage, was denn spezifisch jüdisch sei.
Parallel dazu sondieren die Sinne ständig, ob tatsächlich alles so geplant war oder die Realität mehr oder minder zufällig in die Inszenierung eingreift. Die Grenze zwischen erhöhter Aufmerksamkeit und Überspannung verschwimmt: hier ein Stein in einer Hauswand mit der Aufschrift »Zum öffentlichen Luftschutzraum«, dort ein tätowierter Mann, der hinter Moses, der die Zehn Gebote empfängt, wie eine Figur aus einem Monty-Python-Film aus dem Fenster schaut. Alles könnte dazugehören oder eben nicht.
egal Doch die Antwort auf diese Fragen wird mit zunehmender Dauer des Stücks immer unwichtiger. Der Moment ist wie er ist. Und ob etwas inszeniert ist oder nicht, ändert nichts an der Aussage und letztlich auch nichts an der Wirkung. Und was macht das Jüdisch-Sein aus? Was macht es für das Individuum für einen Unterschied, ob es Jude ist, oder Christ, Moslem oder Buddhist? Die Antwort der Schauspieler entwirft eine Dialektik, an der auch Nathan der Weise seine Freude haben würde: »Egal, es ist egal, es ist gleich gültig, ist gleich wichtig.«