von Roland Ernst
Nichts ist so relativ wie die Wahrheit. Deshalb braucht eine offene Gesellschaft die freie Debatte. Wenn unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen und miteinander ringen, dann kommt am Ende etwas heraus, das der Wahrheit nahekommt. Das ist das Grundprinzip des talmudischen Pilpul ebenso wie des griechischen Dialogos sowie auch unserer heutigen Diskussionsformen, von der Bürokonferenz über die TV-Talkshow bis zur Bundestagsdebatte. Soweit die Theorie.
In Wirklichkeit ist es natürlich anders, wie jeder weiß, der jemals sonntags abends in der ARD Sabine Christiansen geschaut hat. Nichts ist wahrer als der Schein, solange er einen selbst ins rechte Licht rückt. Was Meinung heißt, ist meist nichts weiter als heiße Luft, die für Vernebelung, Blendung und Verschleierung von Tatsachen sorgt. »Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie die Dinge wirklich sind«, so definiert es der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt in seinem Essay Bullshit, der zu einem Bestseller geworden ist. Rund 400.000mal verkaufte sich das 70 Seiten starke kleine Büchlein in den USA, in Deutschland sind es bisher 70.000 Exemplare.
Ein Philosoph als Bestsellerautor? Das irritiert. Das Schweizer Nachrichtenmagazin Facts hatte auch gleich eine Verschwörungstheorie parat: Es könne wohl kaum ein Zufall sein, daß, wenn man vier Buchstaben des Buchtitels streiche, der Namen des gegenwärtigen US-Präsidenten herauskomme. Klingt gut, ist aber »Bullshit«. Als Harry G. Frankfurt vor rund zwanzig Jahren den Essay schrieb, wohnte George W. noch in Texas, und nicht einmal sein Vater war Präsident. Vor zwei Jahren schlug Frankfurts Lektor dem mittlerweile emeritierten Princeton-Professor vor, den Text, der bis dahin nur in der philosophischen Fachpresse erschienen war, als Buch herauszugeben. Weder Verfasser noch Verlagrechneten damit, daß daraus ein Verkaufserfolg werden würde.
Bullshit ist ein akademischer Essay ohne professorale Attitüde, eine Kampfschrift gegen den beliebigen Umgang mit Sprache und Wahrheit, ein bitterböses Pamphlet, das sich beim Sprachlogiker Ludwig Wittgenstein ebenso bedient wie beim heiligen Augustinus oder bei dem Krimiautor Eric Ambler. In einer für jedermann verständlichen Sprache bringt dieser zwei Jahrzehnte alte Text ein höchst aktuelles Dilemma auf den Punkt. Wir werden mit Humbug überschüttet. Politiker, Moderatoren, Stars, alle reden Mist. »Bullshit zeichnet sich dadurch aus, daß Richtig und Falsch keine relevanten Kategorien mehr sind«, sagt Harry G. Frankfurt. Und in den westlichen Mediendemokratien ist dieses Phänomen unaufhaltsam auf dem Vormarsch. »Bullshit tritt überall dort auf, wo die Beteiligung der Bürger am politischen Prozeß stark gefragt ist.« Folgerichtig befaßt sich der Philosoph derzeit mit »Spin«, der PR-Technik, mit der Politiker und Meinungsmacher den Fakten einen Dreh geben, damit diese in ihr Konzept passen.
Bullshit hat seinen mittlerweile 76 Jahre alten Autor berühmt gemacht. Bisher kannte nur die amerikanische Fachwelt ihn und sein Werk, das mehr als zwanzig Bände umfaßt. Frankfurt, Mitglied der American Academy of Arts and Sciences, schrieb über Ethik, Philosophie des Geistes und Handlungstheorie. In Deutschland sind vor Bullshit nur zwei seiner Bü-cher erschienen. Sein 1988 erschienenes Hauptwerk The Importance of What We Care About wartet noch darauf, übersetzt zu werden.
Dank Bullshit ist Harry G. Frankfurt jetzt das geworden, wonach sich Philosophen sehnen, doch was sie insgeheim auch fürchten: einer, der gehört und beim Wort genommen wird. Der Privatmann findet sich plötzlich in der Rolle des Medienlieblings wieder. Worum sich einer wie Peter Sloterdijk seit Jahren angestrengt bemüht, ist Harry G. Frankfurt quasi über Nacht geglückt: Er ist ein populärer Philosoph geworden, der denkende Hofnarr, der ausspricht, was viele empfinden: das Bedürf- nis nach etwas mehr Sein und ein bißchen weniger Schein.
harry g. frankfurt: bullshit
Übersetzt von Michael Bischoff
Suhrkamp, Frankfurt/Main, 73 S., 8 €