von Miryam Gümbel
»Es wird Hausdurchsuchung sein. Ich hab hübsch Angst.« Diese beiden Sätze stehen im Tagebuch eines dreizehnjährigen Mädchens, geschrieben im Februar 1934 in Wien. Für Ellen Presser, die Leiterin des IKG-Kulturzentrums, belegen diese Zeilen, dass die Nachkriegsausrede vieler Menschen, nichts gewusst zu haben, nicht stimmen kann. Gemeinsam mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit hat das Kulturzentrum während der Woche der Brüderlichkeit das neu in der Deutschen Verlagsanstalt DVA erschienene Buch Ruth Maier – Das Leben könnte gut sein, Tagebücher von 1933 bis 1942, herausgegeben von Jan Erik Vold, vorgestellt. Auch wenn das Motto der Woche der Brüderlichkeit »So viel Aufbruch war nie«, heißt, sei dieser Rückblick notwendig, betonte Presser: »Wir können nicht in der Gegenwart leben, wenn wir nicht immer wieder den Blick in die Vergangenheit riskieren. Es ist viel gesagt worden, es ist viel veröffentlicht worden.« Dass Aufklärung auch weiterhin notwendig ist, illustrierte sie mit einer kleinen Bemerkung am Rande. Im Vorfeld des Lesungsabends sei sie gefragt worden, ob die Autorin auch anwesend sei. Nicht für jeden also lege der Endpunkt eines Tagebuches im Jahr 1942 nahe, dass die Verfasserin der Texte diesen Zeitpunkt nicht überlebt habe.
1942 ist Ruth Maier mit 22 Jahren in Auschwitz ermordet worden. Ihre Tagebuchaufzeichnungen, die sie im Alter von 13 Jahren begann, sind, so Ellen Presser »nicht weniger aufregend als diejenigen von Anne Frank.« In seiner historischen Einführung setzte Jürgen Zarusky vom Münchner Institut für Zeitgeschichte ein Zitat von Ruth Maier an den Anfang: »Im November 1942 hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben: ›Einmal nimmt alles ein Ende und dann wird alles gut.’« Etwas Ahnung und tiefe Resignation spreche aus diesen Zeilen, so der Historiker. Am 12. November vertraut sie ihrem Tagebuch zum letzten Mal ihre Beobachtungen und Empfindungen an.
Geboren wurde Ruth Maier am 10. November 1920 in Wien. Ihr Vater, Doktor der Philosophie, war Generalsekretär der österreichischen Postgewerkschaft und des Verbandes der Internationalen Postgewerkschaften. Ruth und ihre jüngere Schwester Judith wuchsen in einem säkularisierten Elternhaus auf und hatten eine glückliche Kindheit. Die Arbeiterbewegung in Österreich war weitgehend frei von Antisemitismus. Anfang 1934 wird die sozialdemokratische Partei aufgelöst. Das ist Ruths erster Tagebucheintrag nach dem Tod ihres Vaters, der am 28. Dezember 1933 mit nur 51 Jahren unerwartet starb. Die eingangs zitierte Hausdurchsuchung steht bevor. Dass die Aufzeichnungen des jungen Mädchens nicht einfach Gehörtes wiedergeben, wird durch die bunte Vielfalt der Tagebuch-Einträge unterstrichen. Impulsivität und Gefühlsausbrüche finden ebenso ihren Niederschlag wie melancholische Reflexionen. Bei der Lesung vermittelt die Schauspielerin Regine Leonhardt davon einen nachhaltigen Eindruck.
Ruth Maier hat das politische Geschehen genau beobachtet. Zunächst kann sie nach Norwegen emigrieren, wo sie bei Freunden des Vaters wohnen und ihre Schulausbildung beenden kann. Ihre Schwester Judith war bereits zuvor mit einem Kindertransport nach England gekommen. Briefe an die Schwester ergänzen die Tagebucheintragungen ebenso wie Fotos und vor allem Zeichnungen der jungen Frau. Ruth Maier konnte sich ein zukünftiges Leben auch als Künstlerin vorstellen. Dabei hoffte sie auf ein Visum für die USA, in denen sie sich als Jüdin ein sichereres Leben als in Europa erwartete. In Norwegen freundete sie sich mit der jungen Dichterin Gunvor Hofmo an. Diese bewahrte nach der Deportation Ruth Maiers von Oslo nach Auschwitz auch die Tagebücher auf, die der Dichter und Schriftsteller Jan Erik Vold im Nachlass seiner norwegischen Kollegin entdeckte. 2007 veröffentlichte er die Tagebücher und Briefe von Ruth Maier in Norwegen. Jetzt hat die DVA das Werk auf Deutsch herausgebracht. Es schildert eine Zeit, in der, wie Ellen Presser es formulierte, »ein Miteinander von Juden und Christen, von Juden und Nicht-Juden verboten war. Juden wurden ausgegrenzt und alle Aspekte der Ausgrenzung sind im Leben von Ruth Maier gebündelt.«
Der zweite Abend, den das Kulturzentrum der IKG gemeinsam mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit veranstaltete, erinnerte auf eine ganz andere Weise an eine Kultur, die in der Schoa weitgehend verloren gegangen ist. Die Chansonsängerin und Harfenistin Susanne Weinhöppel trug Lieder aus ihrer neuen CD schmeicht un trern vor. Dabei erinnerte sie nicht nur musikalisch an die Tradition von Dichtern wie Izik Fefer (ich bin a jid), Mordechai Gebirtig (awreml der marwicher) und Ben-Zion Witler (Wi nemt men a bissele masl), sondern auch XXX. Im Gespräch mit Ellen Presser führte sie das begeisterte Publikum auch in diese heute verlorene Welt ein.