von Micha Guttmann
Heute dürfen wir uns freuen. Das ist im Mediengeschäft eher ungewöhnlich. Denn meist überwiegt in der aktuellen Berichterstattung und in der Kommentierung der Ärger, und manchmal auch die Lust am Ärger. Es gab und gibt reichlich Vorfälle in unserer Gesellschaft, die Anlass geben zu Aufregung, Kritik und Mahnung. Und dieser Aufgabe muss sich eine jüdische Zeitung stellen.
Doch die Wiedereinweihung der größten Synagoge Deutschlands und die Eröffnung des Bildungszentrums von Chabad Lubawitsch in Berlin an einem Wochenende (vgl. S. 17), die Vielzahl der Neugründungen jüdischer Zentren im ganzen Bundesgebiet und die Zunahme der Mitglie- derzahlen in den jüdischen Gemeinden sind Entwicklungen, die selbst kritischste Beobachter überzeugen werden. Hier passiert etwas Aufregendes, das selbst in den USA, in Südame- rika und in Israel Aufmerksamkeit erregt. Es entsteht etwas Neues, mit allen Chancen, die solche Entwicklungen mit sich bringen.
Jüdisches Leben in Deutschland ist heute so vielfältig, so interessant und so selbstverständlich geworden, dass außer in Festreden kaum noch jemand über diese rasante Entwicklung der vergangenen Jahre nachdenkt. Und das ist gut so. Es macht Spaß, die Programme Jüdischer Kulturtage anzuschauen, ob sie in Berlin stattfinden, in Düsseldorf, Frankfurt oder Dresden. Die jüdischen Museen präsentieren Ausstellungen, die mit großem Interesse angenommen werden. Die meisten Gemeinden haben ihre Tore geöffnet, damit sich jüdisches Leben innerhalb und nicht außerhalb der nichtjüdischen Umwelt entwickeln kann. Und der Trend ist weiter positiv. Von Jahr zu Jahr wächst die Mitgliederzahl. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland gehört heute zu den größten und wichtigsten in Europa.
Vor 20 Jahren sah das noch anders aus. Rund 30.000 Mitglieder verzeichneten damals die Statistiken der jüdischen Gemeinden. Die Zahl sank, der Altersdurchschnitt stieg an. Nur von außen, also durch Zuzug, konnte dieser Trend noch umgekehrt werden. Diese Erkenntnis der Führung des Zentralrats der Juden in Deutschland, erstmals so deutlich und öffentlich 1989 vom damaligen Vorsitzenden Heinz Galinski und seiner Mannschaft vorgetragen, führte zu heftigen Protesten, von innen und von außen. Anlass der Kritik war die Vision, die der Zentralrat in praktische Politik umsetzen wollte. Durch unbeschränkten Zuzug jüdischer Einwanderer sollte in naher Zukunft eine lebendige, aus sich heraus wachsende Gemeinschaft entstehen. War dieser Kurs richtig? Oder nahm man damit in Kauf, dass die Zuwanderer, die kaum Kenntnisse über jüdische Religion und Kultur mitbrachten, die Gemeinden so veränderten, dass sie ihre religiösen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen konnten? Die Zahl der Bedenkenträger in den Gemeinden war groß, darunter auch viele, die sich heute nur ungern an ihre damaligen Vorbehalte erinnern lassen. Doch die Mehrheit im Zentralrat und in den Gemeinden unterstützte den Kurs Heinz Galinskis, der unbeirrt gegen alle Widerstände an dieser Vision festhielt und auch die Bundesregierung dazu brachte, in einem Vertrag diesem Weg zuzustimmen.
Die damalige Entscheidung war richtig, auch wenn die Zentralratsführung die konkreten Integrationsprobleme in den Gemeinden unterschätzt hatte. Gerade junge Menschen aus den Zuwandererkreisen finden heute den Weg zurück zu jüdischen Glaubensüberzeugungen und Traditionen. Das Angebot der verschiedensten religiösen und kulturellen Strömungen des Judentums ist heute so vielfältig, dass jeder für sich das Richtige finden kann. Allerdings muss er es auch wollen.
Und das ist die neue Vision: Die Gemeinden nehmen die entstandenen Chancen wahr und sind bei ihrer wichtigsten Aufgabe erfolgreich, jungen Menschen bei der Suche nach jüdischer Identität zu helfen. Dabei respektieren sie auch die unterschiedlichen religiösen Auffassungen. Die orthodoxen, konservativen und liberalen Strömungen und ihre Organisationen verstehen ihr Engagement in Deutschland als fairen Wettbewerb um religiöse Überzeugungen und nicht als Kampf gegeneinander. Die heutige Freude über die Wachstumskraft jüdischen Lebens in Deutsch- land ist also verbunden mit der Vision für morgen. Das ist spannend und aufregend.
Der Autor ist Rechtsanwalt und Journalist und war von 1986 bis 1992 Direktoriumsmitglied und Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland.