von Alfred Bodenheimer
»Rabbi Jochanan sagt: Drei Bücher werden am Rosch Haschana geöffnet: Eines für die vollends Schlechten und eines für die vollends Gerechten und eines für die Mittleren. Die vollends Gerechten werden sofort zum Leben eingeschrieben und gesiegelt, die vollends Schlechten werden sofort zum Tode eingeschrieben und gesiegelt, die Mittleren sind hängig und stehen von Rosch Haschana bis Jom Kippur vor dem göttlichen Gericht. Verdienen sie es, werden sie zum Leben eingeschrieben, verdienen sie es nicht, werden sie zum Tode eingeschrieben.« (Babylonischer Talmud, Rosch Haschana, 16b).
Dieses Bild von den Büchern, in die wir eingeschrieben worden sind, ist sehr populär geworden, nicht zuletzt durch den Eingang, den es ins Gebet gefunden hat: »Am Rosch Haschana werden sie eingeschrieben, und am Jom Kippur werden sie gesiegelt«, beten wir am Rosch Haschana.Von Rosch Haschana an fügen wir auch im Amida-Gebet täglich dreimal die Bitte ein, das Volk Israel solle zum Leben eingeschrieben werden. Wir bitten um das göttliche Einschreiben in die Bücher des Lebens, des Verzeihens und der Verdienste, die einen zentralen Teil des Awinu-Malkenu-Gebets bilden. Erst im Schlußgebet von Jom Kippur, Neila, tauschen wir das »Schreiben« (katov) gegen das »Siegeln« (chatom).
Unser Zugang zu Rosch Haschana und Jom Kippur entspricht dem, den Maimonides fordert, wenn er in Hilchot Tschuwa schreibt, der Mensch solle sich führen, als stünde er genau in der Mitte zwischen Gut und Böse, so daß also jeweils der nächste Schritt darüber entscheidet, welcher Gruppe man zugerechnet wird. Denn tatsächlich bedeutet »Mittlere«, wie auch Raschi klärt, nicht irgendeinen statistischen Graubereich zwischen dem mehr oder weniger Guten und dem mehr oder weniger Bösen, sondern es steht für die Menschen, bei denen sich die guten Taten und die Vergehen genau die Waage halten. Der Gedanke, daß wir alle in den zehn Tagen zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur zur Tschuwa, Rückkehr, aufgerufen sind, weist darauf hin, daß hier weder Verzweiflung noch Selbstzufriedenheit am Platze sind. Wir erleben in diesen Tagen wie sonst nie eine Gleichheit aller – nicht nur die sozialen Unterschiede sind eingeebnet, wenn die Betenden in ihren weißen Totenkleidern vor Gott stehen, auch die Unterschiede der Gelehrsamkeit, des Lebenswandels, der moralischen Einschätzung ei- nes Menschen durch ihn selbst und durch die Gemeinde. Keiner kann sich der Eintragung im »Buch des Lebens« sicher sein, keiner soll sich als hoffnungslosen Fall im »Buch des Todes« wähnen. Zum Guten wie zum Bösen wagt keiner die Vorstellung, er sei in einem anderen als dem mittleren Buche eingetragen, die drei Bücher reduzieren sich, was die Praxis der zehn Bußtage angeht, auf eines. Erst mit Untergang der Sonne am Jom Kippur, so läßt sich aus dem Ausspruch des Talmud und aus der Anlage der Gebete schließen, wird das »Buch der Mittleren« geschlossen. Aus dem einen Buch, in das hinein und zugleich aus dem heraus sich alle gedrängt haben, werden definitiv zwei, die Bücher der klaren Kategorien: Jeder ist zuletzt in einem dieser beiden Bücher verzeichnet.
Dieses Bild ist in sich selbst sehr aussagekräftig. Wir können jedoch fragen: Warum legt der Talmud uns auf ein solches Bild von Büchern fest, da doch ein göttlicher Richterspruch vollends genügen würde? Es lohnt eine kurze Betrachtung.Raschi kommentiert das Stichwort »Drei Bücher« mit der üblichen Kürze: »Die Erinnerungsbücher der Tat der Menschen.« Diese Formulierung suggeriert zunächst einmal, es könnte nicht einfach nur drei Kategorien von Menschen geben, sondern vielmehr über jeden von uns drei solche Bücher, in denen aufgerechnet und im mittleren bewertet wird. Oder drei Bücher, in denen nicht bloß die Menschen selbst, sondern nach einer nur Gott bekannten Verrechnungsmethode auch ihre einzelnen Taten verzeichnet und berücksichtigt sind. In diesem Falle ist es nicht nur das Schicksal der einzelnen Menschen, sondern – und auch dies liegt der Tschuwa-Idee des Maimonides nahe – das Schicksal der Welt selbst, das in dieser Berechnung auf dem Spiel steht.
Kommt Gott nach dem Betrachten aller Menschen und dem Verrechnen aller ihrer Taten im mittleren Buch zum Schluß, daß das Buch der Guten unzureichend gefüllt ist, bleibt nur noch das »Buch des Todes« übrig. Daß Raschi den eigenartigen Singular »die Tat der Menschen« benützt, könnte darauf hinweisen, daß eine einzige Tat eines einzelnen entscheidend sein kann darüber, ob das Menschengeschlecht etwas anderes als den Untergang verdient oder nicht.
Die Betrachtung der Metapher, wie wir Gottes Bücher füllen, zeigt uns, daß wir selbst einen Zugang zu den Büchern haben, in denen Gott sich uns offenbart. Eines davon ist die Tora. Im Babylonischen Talmud, Traktat Eruwin 13a wird eine Geschichte erzählt, wie Rabbiner Meir zu Rabbiner Jischmael kommt. Rabbiner Jischmael fragte, was die Beschäftigung von Rabbiner Meir ist. Auf die Antwort, er sei ein Toraschreiber, sagt Rabbiner Jischmael zu Rabbiner Meir: »Mein Sohn, sei vorsichtig mit deiner Arbeit, denn deine Arbeit ist Gottesarbeit, du könntest einen Buchstaben auslassen oder einen Buchstaben zuviel schreiben, da würdest du die ganze Welt zerstören.«
Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Hans Blumenberg schloß hieraus, die Existenz der Welt hänge laut diesem Talmudwort »von der Existenz des Buches ab. Auf Grund dieses Buches und um dieses Buches willen ist die Welt da, und sie verliert ihre Daseinsberechtigung, wenn sie ihre Funktion nicht erfüllt.«
Rosch HaSchana: 1. Buch Moses 21,1 bis 34, 4. Buch Moses 29, 1 bis 6.