kreta

Allein zu klein

Alexander Phoundoulakis wirkt heute ein wenig genervt, zumindest angespannt. Der Verwaltungssekretär der Etz-Hayyim-Synagoge in Hania im Nordwesten Kretas lässt sich normalerweise nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Doch an diesem Tag haben sich mehr Besucher als gewöhnlich bei ihm eingestellt. Der Synagogenraum ist fast vollständig ausgefüllt mit Hebräisch sprechenden Gästen, sie sind ruhelos und stellen immer neue Fragen.
Gerade mal drei Jahre liegt es zurück, dass sich Phoundoulakis als Kaufmann ausschließlich mit nichtjüdischen Dingen beschäftigte und den Unterschied zwischen »Kiddusch« und »Kaddisch« noch nicht kannte. Seither hat er sich mit dem Judentum und der Synagoge von Hania vertraut gemacht und weiß inzwischen sehr viel. Doch wenn man ihn nach dem Geheimnis eines koscheren Ouzo fragt, muss er passen und verweist auf seinen Chef Nikos.
Etz Hayyim ist die einzige Synagoge, die auf der griechischen Insel Kreta heute noch steht und als das dient, wozu sie einst errichtet wurde. Das Häuflein der übrig gebliebenen Juden in Hania ist im halachischen Sinne keine Gemeinde mehr. Und selbst wenn man die vier weiteren Juden, die auf der Insel leben, in Rethymnon und Heraklion, hinzurechnet, reicht es nicht für einen Minjan.
»Wir sind nur sieben Juden in Hania«, sagt Nikolas Hannan-Stavroulakis (77), der Gemeindevorsitzende. Zu Schacharit jeden Morgen um neun Uhr und zu den Gottesdiensten an Kabbalat Schabbat kommen oftmals jüdische Touristen aus der ganzen Welt, die meisten aus Israel. Hannan-Stavroulakis spricht von einer »ad hoc-Gemeinde«.

romaniotisch Man muss schon in den verwinkelten Gässchen der Altstadt von Hania suchen, um die Synagoge zu finden. Vor der Schoa gab es noch ein jüdisches Viertel mit Geschäften, einer Schule und Wohnhäusern für die etwa 300 Juden des Ortes. Bis heute steht hier eine Synagoge aus dem frühen 16. Jahrhundert, in der nach sefardischem Ritus gebetet wird. Man nennt ihn hier »romaniotisch«, weil das Wort griechisch-römische und byzantinische Juden und deren Nachkommen bezeichnet. Zur Synagoge gehört eine erhalten gebliebene Mikwe, die aus aus Berg- quellen gespeist wird. Die kleine Gemeinde behauptet, es sei das kälteste Tauchbad Europas.
Freitagabend, 20 Uhr. Im schattigen Innenhof der Synagoge hat sich eine kleine Gruppe von Männern und Frauen aus unterschiedlichen Ländern zu Kabbalat Schabbat eingefunden. Man spricht Griechisch und Englisch, vereinzelt hört man auch ein deutsches Wort. Es geht auf 20.30 Uhr zu, als sich mit einem Mal, wie auf Kommando, weitere Gottesdienstbesucher einstellen. Und als es ans Betreten der Synagoge geht, ist der Betraum mit an die 40 Personen fast vollständig besetzt.
Als Vorbeter fungiert Nikolas Hannan-Stavroulakis. Eine friedliche Stimmung liegt über dem Raum. Die geöffneten Flügelfenster über dem Frauengestühl, das bis zum Holocaust benutzt wurde, geben den Blick frei auf einen Balkon, der inzwischen die Gemeindebibliothek beherbergt. Durch die offene Eingangstür lassen sich Bouzouki-Klänge aus der gegenüberliegenden Taverne vernehmen – welch ein Kontrast zu »Lecha Dodi«!
Nach dem Gottesdienst bleiben Beter und Gäste noch zum Kiddusch beisammen. Nikos Stavroulakis hat wie stets die Challot selbst gebacken. Der Kiddusch-Becher kreist von Besucher zu Besucher. Man macht sich miteinander bekannt: Juden und Nichtjuden, Griechen, Israelis, Amerikaner, Libanesen, Deutsche.

sicherheit Ein gar so friedlicher Anblick. Doch gibt es Antisemitismus auf Kreta? »Eigentlich nicht«, meint Alexander Phoundoulakis. Man sei eine unsichtbare Minderheit, da habe Antisemitismus »keinen Sinn« und würde sich allenfalls gegen eine imaginäre Gruppe richten. »Auch wenn sich der Antisemitismus längst vom Juden emanzipiert hat, entspricht es keiner Logik, Judenfeindlichkeit ohne Juden an den Tag zu legen.« Das Wachhäuschen für einen Sicherheitsbeamten ist schon seit langer Zeit nicht mehr besetzt und lehnt verloren an der Hauswand, ein scheinbares Relikt aus einer vergangenen Zeit. Vor zwei Jahren gab es einen antisemitisch motivierten Zwischenfall: Auf der Außenmauer der Synagoge waren Schmierereien entdeckt worden. Die Ermittlungen ergaben, dass es sich bei dem Täter um einen Soldaten der NATO-Basis gehandelt hatte, der zum Zeitpunkt der Tat sturzbetrunken gewesen war.
Die Beziehung zur nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft Hanias bezeichnet Phoundoulakis als »okay«. Sie könnten gleichwohl besser sein, wenn die Kommune die kleine jüdische Gemeinde finanziell unterstützen würde. Das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden ist, wie auch im übrigen Griechenland, von Gleichgültigkeit gekennzeichnet. Es mangelt der griechischen Bevölkerung weitgehend am Verständnis für die besonderen Probleme der jüdischen Minderheit.
Im Jahre 1996 wurde mit der Restaurierung der Etz-Hayyim-Synagoge begonnen, die noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Geld kam unter anderem von der jüdischen Dachorganisation des Landes und der Ronald S. Lauder Foundation. Eine Messingtafel im Innenhof listet weitere Geldgeber namentlich auf. Die laufenden Kosten der Synagoge, die den Status der Gemeinnützigkeit besitzt, werden allein durch Spenden von Privatpersonen bestritten. Mit einem Jahresbeitrag von 55 Euro darf man sich zu den »Freunden der Etz-Hayyim-Synagoge« zählen. Die meisten Förderer sind kretische Juden im Ausland.

geschichte Eine weitere Messingtafel mit 286 Namen erinnert an die Holocaust-Opfer unter den Juden Hanias. 1944 endete die rund 2.400-jährige Geschichte einer jüdischen Gemeinde. Es verschwanden ihre besondere Tradition, ihre Bräuche, ihre Musik und ihr Idiom.
Im Mai 1941 hatten deutsche Fallschirmjäger Kreta in Besitz genommen, kurz darauf kamen SS-Einheiten. Prominentester der rund 10.000 Fallschirmjäger war Box-Weltstar Max Schmeling. Der wollte eigentlich nicht, schützte Durchfall vor. Und tatsächlich brach er sich bei der Landung auf hartem kretischem Boden den Knöchel und war für die Nazipropaganda kein Vorzeigesoldat mehr. Die Insel fiel in deutsche Hand – und die richtete Schreckliches unter der Zivilbevölkerung an, vor allem an den Juden.
Dem Schächtverbot folgte die Kennzeichnung jüdischer Geschäfte, und 1943 begannen die Vorbereitungen zur sogenannten Endlösung. Die kretischen Juden wurden in Hania zusammengepfercht. Am 29. Mai 1944 sperrten die Deutschen das jüdische Viertel ab, forderten die Menschen auf, ihre Häuser zu verlassen und auf die Straße zu kommen. Innerhalb einer Stunde wurde die gesamte jüdische Gemeinde mit Lastwagen in das nahe gelegene Gefängnis von Aya geschafft. Deutsche Soldaten plünderten das Viertel. Am selben Abend war die Synagoge all ihrer Bücher und Kunstgüter beraubt und geschändet.
An Bord eines umgebauten Transportschiffes brachten deutsche Soldaten die kretischen Juden am 9. Juni 1944 in Richtung Athen. Mit an Bord waren etwa 600 griechische und italienische Kriegsgefangene. Am frühen Morgen des nächsten Tages wurde das Schiff in der Nähe der Insel Milos von einem britischen U-Boot gesichtet und torpediert. Das Schiff sank innerhalb kürzester Zeit. Niemand überlebte. Will man in dem Ertrinken etwas Tröstliches sehen, dann mag man sagen, dass den kretischen Juden das Schicksal der 94 Prozent aller griechischen Juden aus Thessaloniki, Korfu, Rhodos und anderen Städten erspart geblieben ist – die Viehwaggons, eine furchtbare Deportation und das Gas von Auschwitz.
Nur sieben Juden leben heute noch in Hania. Doch auf merkwürdige Weise setzt sich jüdisches Leben fort – es existiert durch Juden aus der ganzen Welt, die immer wieder nach Kreta kommen. Sie heiraten hier, feiern Barmizwa und sorgen mit ihren Spenden dafür, dass es weitergeht.

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