»Alle sollten
Rücksicht nehmen«
Israel Singer über den Dialog
mit der islamischen Welt
Herr Singer, ist der »Dialog der Kulturen« angesichts der Eskalation zwischen Muslimen und dem Westen noch zu retten?
singer: Es gibt keine Alternative. Wenn wir uns nicht engagieren, werden wir den Preis dafür zahlen: Christen, Juden und Muslime.
Aber kann man offenbar grundlegende Differenzen einfach aus der Welt reden?
singer: Dialog ist mehr als reden. Reden ist nur eine Methode. Es ist naiv anzunehmen, man könnte durch eine interreligiöse Diskussion die Atmosphäre verbessern. Im Gegenteil: Ich würde behaupten, die meisten theologischen Gespräche zwischen Juden und Chri- sten haben die Beziehung eher verschlechtert als verbessert. Religion ist nur eine Ausdrucksform der grundsätzlichen weltanschaulichen Differenzen. Trotzdem teilen die meisten Menschen und Gesellschaften dieselben Herausforderungen und Wünsche: Sie wollen ein besseres Leben, gute Bildung für die Kinder, Sicherheit. Beim Dialog geht es darum, sich gegenseitig zu zeigen, wer man ist, und was einem wichtig ist. Wenn Muslime Mohammed-Zeichnungen ablehnen, müssen wir das respektieren.
Dialog setzt aber voraus, daß es jemanden gibt, der überhaupt mit uns reden will ...
singer: Das Problem ist doch nicht, daß es keine Muslime gäbe, auf die das zutrifft, sondern, daß sie keinen Einfluß haben. Wir müssen Menschen finden und bestärken, die ehrlich, selbstbewußt und einflußreich sind. Men- schen brauchen Führung. Gute Führer können vieles verändern. Drei Päpste haben in nur 40 Jahren das zuvor 2.000 Jahre herrschende Verhältnis der katholischen Kirche zu den Juden vollkommen verändert. Was zwischen Christen und Juden möglich ist, ist auch zwischen Muslimen und Juden sowie zwischen Muslimen und Christen möglich. Wir müssen die übergroße Mehrheit der gemäßigten Muslime bestärken, die derzeit von einer radikalen Minderheit in Geiselhaft genommen wird. Der Westen sollte zum Beispiel aufhören, Muslime bei der Visavergabe zu benachteiligen und allen terroristische Absichten zu unterstellen. Und die gemäßigten Muslime müssen sich ihr Leben von den Radikalen zurückholen.
Und die Juden?
singer: Wir sollten als kleinste der beteiligten Gruppen unsere Talente dazu nutzen, für Ausgleich zu sorgen. Jüdische Organisationen sollten die falsche These vom »Kampf der Kulturen« nicht im Munde führen. Alle Beteiligten sollten rücksichtsvoller umgehen mit dem, was anderen wichtig ist. Wir Juden können und werden dabei eine Führungsrolle spielen.
Mit dem Vorsitzenden des »politischen Rates« des World Jewish Congress sprach Tobias Kaufmann. (vgl. S.11)