von Wladimir Struminski
Am Dienstagabend vergangener Woche sah Dalia, Programmiererin aus Jerusalem, die Abendnachrichten mit besonderer Spannung. Ihre Aufmerksamkeit galt der Auflistung aller Dienststellen und Institutionen, die vom Gewerkschaftsbund Histadrut am Mittwoch bestreikt werden sollten. Als der Nachrichtensprecher bei der letzten Position angelangt war, atmete die Mutter dreier Töchter erleichtert auf. Die Schulen, so das Fazit, würden normal arbeiten. Damit war für die beiden größeren Mädchen gesorgt. Auch im Kindergarten war es diesmal nur halb so schlimm. Als Angestellte des Erziehungswesens durfte Kindergärtnerin Rachel ihren Dienst antreten. Lediglich die von der Stadtverwaltung gestellte Hilfskraft Lea fiel aus. Unverzüglich griff Dalia, Vorsitzende des El-
ternbeirats, zum Hörer. Eine Stunde später hatte sie Ersatz gefunden. »Das ist doch Routine«, sagt Dalia und fügt sarkastisch hinzu: »In Japan gibt es ein Warnsystem gegen Tsunamis, in Florida gegen Hurrikans und bei uns gegen die Histadrut.«
Weniger Glück hatte Dalias Ehemann Neri. Weil der Ben-Gurion-Flughafen bestreikt wurde, mußte er seine Rückkehr von einer Geschäftsreise in London verschieben. Wie ihm ging es Tausenden von Passagieren. Über Ausnahmen beim Flugverbot entschied die Histadrut in eigener Machtvollkommenheit. So ließen die Gewerkschafter eine Maschine aus Brüssel landen: An Bord befanden sich Familienangehörige der entführten Soldaten Ehud Goldwasser und Eldad Regew. Sie im Exil schmachten zu lassen, hätte das Image der Arbeitnehmervertretung lädiert. Hingegen erhielt eine Maschine der British Airways lediglich die Erlaubnis, ohne Fluggäste abzuheben. Als die Airline dennoch versuchte, Fluggäste an Bord zu schmuggeln, blies die Gewerkschaft den Start ab.
Bei der Bahn und der Müllabfuhr standen alle Räder still. Die Seehäfen unterbrachen den Warenumschlag. Für einen Tag. Denn noch in der Nacht ordnete das oberste Arbeitsgericht des Landes eine Streikpause an. Dennoch hinterließ der Arbeitskonflikt Spuren. »Die Wirtschaft hat 350 Millionen Schekel (rund 65 Millionen Euro) verloren«, zürnte der Präsident der Industriellenvereinigung, Schraga Brosch.
Dabei hatten die allermeisten Streikenden gar keine Forderungen an ihre Arbeitgeber: Mit dem Ausstand wollte die Histadrut gegen verzögerte Gehaltszahlungen in einer Reihe von Städten protestieren. Zum Teil schulden finanzschwache Kommunen ihren Mitarbeitern schon mehrere Monatsgehälter. Daß dies ein klarer Verstoß gegen geltendes Recht ist, bestreitet niemand, auch nicht die Industriellenvereinigung, die die Histadrut auf eine Einstellung des Streiks verklagte. Indessen forderten die Industriellen in ihrer Klage: »Der Arbeitskampf darf sich nur gegen die betroffenen Arbeitgeber richten« – also gegen die säumigen Kommunen.
Das sieht die Histadrut ganz anders. Ohne einen umfassenden Streik, glaubt sie, werden Regierung und Kommunen ihre Schulden gegenüber den gebeutelten Arbeitnehmern niemals begleichen. Daher, warf sich Histadrut-Chef Eini in die Brust, diene der Streik »einem ebenso legalen wie moralischen und gerechten Zweck«. Das hat auch das Arbeitsgericht nicht verneint. Vielmehr wiesen die Richter die öffentliche Hand an, die ausstehenden Gehälter umgehend zu begleichen. Falls das trotz Urteil nicht geschehe, drohte Eini an, gehe der Ausstand weiter. Wie immer der jetzige Konflikt ausgeht, heizt er eine alte Grundsatzdebatte an: Darf die Gewerkschaftsspitze das ganze Land nach Gutdünken lahmlegen, um ihre diversen Ziele durchzusetzen. Nach Auffassung des Obersten Gerichts ist ein Generalstreik zulässig, wenn die Grundrechte von Ar-
beitnehmern auf dem Spiel stehen, doch ist auch das eine Frage der Interpretation.
Auf dem Höhepunkt des Hafenstreiks im vergangenen Jahr hatte die Knessetabgeordnete Ruchama Avraham eine Einschränkung des Streikrechts bei öffentlichen Diensten wie dem Luft- und Seeverkehr, sowie der Strom- und Wasserversorgung gefordert. Arbeitsniederlegungen ohne eine Urabstimmung wollte die streitbare Deputierte gänzlich verbieten. Der Vorstoß verlief sich im Sand und hätte auch heute keine Chancen. So muß sich Dalia wohl noch öfter auf Streiks gefaßt machen.