von Rabbiner
Julian-Chaim Soussan
»Sie wollten uns töten, wir haben gewonnen, kommt lasst uns feiern!« Diese flapsige Definition eines jüdischen Festes trifft sicherlich am deutlichsten auf Purim zu. Einer meiner Rabbinerkollegen erklärte einmal, er sei ein »Choser biTschuwa« gewor- den, also einer, der zum Glauben zurückkehrte, weil wir die Überwindung der drohenden Vernichtung mit einem rituell vorgeschriebenen »Saufgelage« begehen. »Ad delo jada« – so viel Wein zu trinken, dass wir den Unterschied zwischen »Gelobt sei Mordechai, und verflucht sei Haman!« nicht mehr machen können, gehört zu den Pflichten dieses Feiertages. Purim stellt uns Haman als Prototypen des ewigen Antisemiten vor, und das Ende des Festes ist darauf aus, diese Tatsache im Alkohol zu ertränken. Weil der Antisemitismus aber erst am Ende der Zeit wirklich besiegt sein wird, gibt es bis dahin die Vorstellung einer judenhassfreien Welt anscheinend nur in einer Alkohol-Utopie.
Wie sieht es heute aus mit dem Antisemitismus? Nachdem wir über Jahrtausende Pogrome, Verfolgungen, Ritualmordbeschuldigungen, Inquisitionen, Vertreibun- gen und die Schoa erlebt haben, hört uns zum ersten Mal in der Geschichte die Öffentlichkeit zu, wenn wir uns über Antijudaismus und Antisemitismus beschweren.
Aber: Sind die Juden nicht gar zu empfindlich? In einer Welt, in der es politisch korrekt ist, höflich und ausgewogen zu sein, darf man da zum Beispiel den Papst kritisieren? Schließlich meint es doch auch die neue Formulierung der Tridentinischen Messe nur gut mit uns, oder? Früher wurde diese Güte auch mal mit dem Scheiterhaufen erzwungen, aber heute? Es ist Jahrhunderte her, dass der von Priestern aufgestachelte christliche Mob an Karfreitag (der dieses Jahr auf wundersame Weise mit Purim zusammenfällt) jüdische Gemeinden überfiel. Ist auch jener Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf zu empfindlich, der sich darüber aufregt, dass der »Zug der Erinnerung« der Deutschen Bahn AG Gleis-, Stand-, Strom- und Wasserkosten bezahlen muss und deshalb Bahnchef Mehdorn angreift, die deportierten Kinder hätten damals kostenfrei »reisen« dürfen? Kann man da nicht verstehen, dass es im Internet nur so hagelt von Kommentaren wie »Die Juden machen in Israel mit den Palästinensern noch viel Schlimmeres« oder »Wie kommt ein Jude dazu, einen Deutschen anzuklagen«?
Aber auch die von Juden selbst oft verlangte Leisetreterei scheint müßig. So haben schon vor Jahren Antisemitismusforscher bestätigt: Es braucht gar keine Juden für den Antijudaismus.
Und Israel? In einer Umfrage im Jahr 2003 wurden Europäer befragt, welches Land den Weltfrieden am meisten gefährdet. 59 Prozent fanden, dass gegenwärtig Israel die größte Bedrohung darstelle, in Deutschland meinten das sogar 65 Prozent. Iran, der geografische Nachfolger des persischen Reiches, in dem die Purimgeschichte spielt, kommt in Europa erst an zweiter Stelle mit 53 Prozent. Dabei propagiert Irans Staatschef Ahmadinedschad seit Langem die Vernichtung Israels, der einzigen Demokratie im Nahen Osten.
Im Jahre 60 nach der Staatsgründung Israels müssen wir feststellen, dass zwei grundsätzliche Hoffnungen, die Juden in einen eigenen Staat setzten, bis heute nicht erfüllt sind. Man hatte sich damals erhofft, dem Antisemitismus erfolgreich die Stirn zu bieten und nach 2000-jähriger Verfolgung einen Ort zu schaffen, an dem Juden in Sicherheit leben können. Doch seit 1948 sind in Israel mehr Juden ermordet worden als auf der übrigen Welt zusammen.
Sollen wir also Purim dieses Jahr ausfallen lassen, weil es immer noch Antisemitismus gibt? Weit gefehlt. Ganz im Gegenteil: Purim ist der ideale Tag im Jahr, an dem wir uns unseres Jüdischseins auf kleinstem gemeinsamen Nenner bewusst werden können – und müssen: Ungeachtet unserer religiösen, sozialen, geografischen oder sonstigen Unterschiede sind in einer Hinsicht alle Juden auf der Welt gleich: Im Fokus der Antisemiten sind wir Juden. Sie interessiert nicht, ob wir Schabbat und Kaschrut halten, politisch links oder rechts stehen, Zionisten oder Marxisten sind.
Hätten wir keine Hoffnung, müssten wir uns nicht nur an Purim, sondern das ganze Jahr über betrinken. Möge Gott geben, dass wir die Überwindung des Antisemitismus nicht nur im Alkoholrausch, sondern – herbeigeführt durch inneren Zusammenhalt – in naher Zukunft erleben. Als endgültige Erlösung zu Zeiten des Maschiachs bekarow bejamenu.
Bis dahin sollten wir nicht müde werden, Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus zu benennen, zu bekämpfen und uns zu unserem Judentum zu be-
kennen.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.