afrikanische Flüchtlinge

Alices Traum

von Sabine Brandes

Der Süden Tel Avivs hat keinen guten Ruf. Und ein besonders angesagter Treffpunkt ist der Lewinsky-Park wahrlich nicht. Zwi-
schen der alten und neuen zentralen Bus-
station gelegen, geben sich hier vor allem jene Männer und Frauen ein Stelldichein, die am Rand der Gesellschaft leben – oder schon gänzlich von ihr vergessen sind. Viele, die nicht wissen, wohin sonst: Ob-
dachlose, Bettler, Prostituierte, Flüchtlinge aus Afrika, viele von ihnen gerade ange-
kommen. Mittendrin steht Alice. Groß, schlank, schön, gut gekleidet, über der Schulter eine trendige Kuriertasche in Schwarz, in den Händen ein dickes Notizbuch, auf den Lippen ein Lächeln.
Eigentlich ist dies ein Ort, an dem eine wie sie nichts verloren hätte, und doch ist es genau hier, wo sie sein will. Alice Nägele arbeitet als Projektleiterin für die Hilfsorganisation »African Refugee Development Center« (ARDC), ist 30 Jahre alt und stammt aus Liechtenstein. Seit zweieinhalb Jahren lebt sie in Israel, ursprünglich war die studierte Juristin hergekommen, um am Obersten Gericht in Jerusalem ein Praktikum zu absolvieren. Das hat sie auch getan. Im Anschluss daran erwarteten ihre Eltern und Freunde, dass sie zurückkommt. Alice ist keine Jüdin und hat auch sonst keine besonderen Verbindungen zu Israel. Sie sollte ihre Karriere weiterverfolgen, denn die war außergewöhnlich vielversprechend: Nach dem Studium in Wien hatte die multilinguale Alice unter anderem in New York gearbeitet.
Ohne Weiteres kann man sie sich in diesem Ambiente vorstellen: In einem eleganten Hosenanzug, die Aktentasche unter dem Arm, eilt sie durch die Straßen-
schluchten der Großstädte dieser Welt, hetzt von einem Termin zum nächsten. »Aber da wollte ich gar nicht mehr hin«, wirft sie ein. Stattdessen hockt sie hier im Gras und fragt einen jungen Mann, ob er neben seinen kaputten Sandalen noch andere Schuhe habe. Falls nicht, könne sie ihm welche besorgen. »Gleich hier um die Ecke, im Lager der Organisation ist Kleidung«, erklärt sie dem Mann mitfühlend. Zur Flüchtlingshilfe kam sie per Zufall. »Ich hatte überhaupt keine Vorstellung, was für eine Situation hier herrscht.« Zu-
erst arbeitete sie als Volontärin für ARDC, eine Organisation, die 2004 von Flücht-
lingen aus Äthiopien, Eritrea, dem Sudan, der Elfenbeinküste und dem Kongo ins Leben gerufen wurde und noch heute von ihnen geleitet wird. Finanziell unterstützt wird sie vor allem vom amerikanischen Außenministerium über die US-Botschaft in Tel Aviv, der Ted-Arison-Stiftung und anderen privaten Sponsoren.
Als ihr Handy klingelt – was es fast ohne Unterlass tut – verdunkelt sich Alices Gesicht. Ein Teenager aus dem Sudan hat zwei Tage nichts gegessen, weiß nicht, wo er schlafen soll. Binnen Minuten hat sie ei-
nen Schlafplatz organisiert, Essen und ei-
nen Volontär, der sich mit dem jungen Flüchtling trifft. »Genau das ist es, was ich will«, erklärt sie, während sie sanft ihre Haare aus dem Gesicht streicht, »mit richtigen Menschen zu tun haben, ihnen ganz praktisch helfen. Nicht nur Flüchtlingsgeschichten hören und dann in irgendwelchen Büros über ihr Schicksal entscheiden.«
Dem ARDC ginge es vor allem um die Selbstbestimmung der Menschen, die aus den ärmsten Ländern der Welt kommen. Unter ihnen seien viele junge Leute, die studiert haben, erläutert Alice. »Sie haben ein enormes Potenzial und wollen sich an der Gesellschaft beteiligen. Aber das können sie nur, wenn sie ein Minimum an Lebensqualität haben.« Derzeit leben um die 12.000 afrikanische Flüchtlinge in Israel. Obwohl es kein staatliches System gibt, haben sie sich in den vergangenen zwei Jahren immer besser organisiert. »Es freut mich, dass die Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Dabei will ich helfen«, macht Alice klar, »und nicht als überhebliche Weiße gesehen werden, die anderen erklärt, wie es geht. Ich bin eine von ihnen.«
Besonders am Herzen liegen ihr die Kinder und Jugendlichen, die oft mutterseelenallein in Israel ankommen, manche sind gerade einmal 14 Jahre alt. Mehr als 250 leben in Tel Aviv, lediglich 40 von ihnen haben einen Platz in einem israelischen Internat gefunden, obwohl alle liebend gern in die Schule gehen würden. »Deshalb habe ich einen Traum«, sagt sie und blickt auf einmal voller Zuversicht, »wir planen ein Bildungszentrum, in dem die lernen können, die sonst keine Chancen haben.« Derzeit laufen Verhandlungen mit Vermietern und der Stadt. »Es soll eine Oase für diese traumatisierten Menschen sein, sie liegt direkt neben einer Musikschule und ist wunderschön.« Während Alice davon erzählt, strahlen ihre Augen in der Sonne mit den roten Haaren um die Wette.
Hört man ihr genau zu, merkt man schnell, worum es dieser jungen Europäerin in der Fremde geht: »Ich komme aus einem Land, wo ich alle Chancen hatte, doch den wenigsten geht es so gut. Ich würde gern auch anderen Möglichkeiten eröffnen.« Naja, und dann sei da noch die private Geschichte, merkt sie leise an und lächelt so verschwörerisch in sich hinein, dass man gar nicht anders kann, als zu fragen, welche denn? Sie habe sich bei ihrer Arbeit in einen ehemaligen Flüchtling verliebt, erzählt sie, während ein hellrosa Hauch ihre Wangen überzieht. »In Johannes.« Und dann kommt er. Charmant und selbstbewusst, mit hervorragendem Englisch, stellt er sich vor. Vor elf Jahren aus Äthiopien gekommen, ist er heute Direktor des ARDC und verfügt über eine befristete Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung in Israel. Neben seiner Arbeit bei der Hilfsorganisation, die jeden Tag füllt, arbeitet er nachts, um sich und seine Partnerin zu ernähren. »Ich wünsche mir, er müsste nicht mehr jede Nacht arbeiten«, gesteht Alice. »Aber gerade geht das nicht, denn das, was man beim ARDC verdient, ist noch kein richtiges Gehalt. Aber es wird schon, da bin ich mir sicher.«
Ihr Leben mag wenig von der Wunschvorstellung vieler haben. Doch für diese beiden jungen Leute, deren Herkunft kaum unterschiedlicher sein könnte, ist es ein echter Traum, zusammen in ihrer neuen Heimat Israel jenen Hilfe zu bieten, die alles verloren haben. Wenn man Alice bei der Arbeit sieht, kann man sich gut vorstellen, warum sie nicht im neuesten Szene-Lokal einer Metropole sitzt, sondern hier, auf dem Rasen, und lächelt.

Kultur

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