Das Tagebuch der Anne Frank wird heute mehr beschworen als tatsächlich gelesen. Gleichwohl gelten die vielen Ausstellungen, Dramatisierungen und Unterrichtsmaterialien zu diesem Buch als ideales Mittel, um vor allem Jugendliche mit der Schoa vertraut zu machen. Doch das unbesehene Vorurteil und breite Angebot an Hilfen übergehen mehr Fragen, als sie tatsächlich beantworten. Lässt sich aus dem Umstand, dass ein außerordentlich begabtes Mädchen, das zu Beginn ihrer Aufzeichnungen 13 Jahre alt war, automatisch schließen, die Lektüre sei dazu geeignet, heute 13-Jährige über die Geschichte der Schoa aufzuklären?
lernziel Ob eine Lektüre geeignet ist, wird sich zunächst daran orientieren, was das erwünschte Lernziel ist. Sodann wird man fragen müssen, ob die Adressaten überhaupt in der Lage sind, das Lernziel ihrer Entwicklung gemäß zu verstehen. Und schließlich muss man prüfen, ob das vorgeschlagene Lernmittel dem Kenntnisstand und Erkenntnisvermögen der Adressaten entspricht. So besehen, kann es kaum einen anderen Schluss geben, als dass die Lektüre des Tagebuchs (die Rede ist hier nicht von den vielfältigen Lernmaterialien, die auf dem Tagebuch beruhen) nur unter ganz besonderen Umständen und keineswegs aus sich selbst heraus dazu geeignet ist, Schülern der achten und neunten Klasse Wesentliches über die Schoa zu vermitteln.
Jugendliche dieser Altersgruppe sollten zuallererst die Ereignisgeschichte des Holocaust in Umrissen kennen. Dann sollten sie sich über das Verhältnis von weltanschaulichem Antisemitismus und staatlicher Vernichtungspolitik informiert haben und für die Lage der Opfer ein deut- liches Einfühlungsvermögen entwickeln, das möglichst Verständnis weckt. Schüler dieser Jahrgänge sollten außerdem in der Lage sein, diesen Informationen verallgemeinerbare Prinzipien über die Würde eines jeden Menschen sowie die daraus erwachsenden moralischen und politischen Pflichten zu entnehmen. So stellt sich die Frage: Was kann Anne Franks Tagebuch zu diesen Lernzielen beitragen?
kontext Ohne zeithistorische Einbettung ist das Tagebuch nicht dazu geeignet, die nötigen Informationen bereitzustellen. Es fängt im Juni 1942 an und setzt damit eine Vorgeschichte voraus, die begann, als Anne Frank gerade mal ein Jahr alt war: die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, die ersten antijüdischen Gesetze im Deutschen Reich sowie die Emigration der Familie Frank in die Niederlande. Allein, um den Anfang des Tagebuchs zu verstehen, müssen diese Informationen erarbeitet werden. Sodann ist bei den Schülern vor allem Kenntnis über die Lage der Niederlande nach der Niederlage gegen das Deutsche Reich und über die Besatzungszeit unerlässlich. Dabei darf die Tatsache nicht umgangen werden, dass die niederländische Gesellschaft entgegen ihrer eigenen Legende sehr viel stärker kollaboriert hat als bisher bekannt. Dazu kann gerade der aus dem Tagebuch selbst nicht hervorgehende Umstand dienen, dass Anne Frank und ihre Familie wahrscheinlich verraten wurden.
antisemitismus Möchte man die Schoa nicht als ein beliebiges, allerdings unfassbares Unglück, sondern als ein arbeitsteiliges Verbrechen begreifen, das nicht hätte stattfinden müssen, so ist es unumgänglich, sich dem Problem des Antisemitismus und seiner mörderischen, staatlichen Exekution zuzuwenden. Das Tagebuch liefert Aufschluss darüber, wozu Antisemitismus führen kann und wie Juden den ihnen entgegenschlagenden Hass zu verstehen such- ten. Wie es dazu kommen konnte, darüber sagt das Tagebuch nichts.
Unter Angst und Schmerz notierte Anne Frank am 11. April 1944: »Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht nur Juden sein. Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht? Wer hat uns bis jetzt so leiden lassen? Es ist Gott, der uns so gemacht hat, aber es wird auch Gott sein, der uns aufrichtet. Wenn wir all dieses Leid ertragen und noch immer Juden übrig bleiben, werden sie einmal von Verdammten zu Vorbildern werden. Wer weiß, vielleicht wird es noch unser Glaube sein, der die Welt und damit alle Völker das Gute lehrt, und dafür allein müssen wir auch leiden.«
Anne Franks erschütternde geschichtstheologische Reflexion zeigt, dass sie – wie hätte es bei einem knapp 15 Jahre alten Mädchen auch anders sein können – über keine Theorien verfügte, historisch zu erklären, wie und warum sie und ihre Familie konkret in die furchtbare Lage gerieten, in der sie sich 1944 befanden.
Identifikation Die Stärke des Tagebuchs liegt vor allem darin, Einfühlungsvermögen zu wecken. Wir lesen hier die genauen Beobachtungen eines weiblichen Teenagers im Blick auf ihr sexuelles Erwachen und ihr Bemühen, zu Eltern, Freunden, ihrer nächsten Umgebung und vor allem zu sich selbst eine definierte Haltung zu gewinnen, etwa, wenn sie am 7. März 1944 im etwas altklugen Rückblick auf ihre Kindheit schreibt: »Ich betrachte diese Anne Frank jetzt als ein nettes, witziges, aber oberflächliches Wesen, das nichts mehr mit mir zu tun hat ... Was ist von dieser Anne Frank übrig geblieben? O sicher, ich habe mein Lachen und meine Antworten nicht verlernt, ich kann noch genauso gut oder besser die Menschen kritisieren, ich kann noch genauso flirten und amüsant sein, wenn ich will ...«
Es sind in der Tat derlei Passagen des Tagebuchs, die grundsätzlich ein hohes Identifikationspotenzial beinhalten. Doch bleibt auch hier zu bedenken, dass es sich um die Ausführungen eines sehr speziellen, bildungsbürgerlich geprägten, frühreifen Mädchens handelt. Mit Blick auf heutige Schülerinnen und Schüler, auf mögliche Adressaten pädagogischer Bemühungen ist keineswegs ausgemacht, dass Jungen und Mädchen aus allen Milieus positiv darauf reagieren. Bei Jugendlichen aus sozialen Unterschichten und traditionellen Migrantenmilieus dürften ausführliche, bildhafte Beschreibungen der weiblichen Genitalien, wie Anne Frank sie vornimmt, als Pornografie gelten. Und wie werden jene Jugendlichen das Buch lesen, die an die Geschwindigeit neuer Medien, an Gewalt und wirk- liche Pornografie gewöhnt sind? Werden sie in der Lage sein, sich dem langsamen, verhaltenen, altmodischen Duktus eines Tagebuchs zu überlassen und sich mit der Protagonistin zu identifizieren?
moral Anne Franks Bekenntnis vom 11. April 1944, aus Leiden heraus zum Guten geläutert zu sein, gibt ein moralisches Niveau vor, über das die meisten Jugendlichen ihrer Entwicklung gemäß (noch) nicht verfügen. Aber eben dies macht das Buch zu einem besonders geeigneten Anlass für moralisches Lernen. Anne Franks Bekenntnis provoziert Rückfragen: Wäre es für die Juden angesichts von Hass und Verfolgung nicht erst einmal an der Zeit, für sich selbst zu sorgen? Was heißt es, das Gute zu lehren und selbst unter Gefahren dafür einzustehen? Wie ist das Verhältnis zwischen dem auch von Anne Frank so inständig geäußerten Wunsch nach Glück und der (vermeintlichen?) Pflicht, für das Gute und Gerechte einzustehen?
einbettung Ist das Tagebuch der Anne Frank für den Unterricht geeignet? Durchaus! Allerdings nicht so, dass es sich selbst erklärt, sondern im Gegenteil so, dass es einer außerordentlich sorgfältigen Lektüre, Lernzielbestimmung, einer didaktischen Analyse und historischen Einbettung bedarf, bevor man auch nur die erste Seite aufschlägt. Unter diesen Bedingungen ist dann freilich zu erwarten, dass zumindest bildungsbürgerlich geprägte Jugendliche erhebliche historische und moralische Einsichten aus der Lektüre ziehen können.