London

»Äußerst treue feindliche Ausländer«

von Anne Przybyla

Der Club vermißt seine »Tealady«. Mehr als 30 Jahre lang hat die 1939 vor den Nazis geflohene Heddy Friedman das britische Urgetränk an Mitglieder und Gäste ausgeschenkt. Jetzt versagen die Beine der 97jährigen den Dienst. Also ist der Präsident des »Clubs 43« auf ein Fertiggetränk angewiesen. Orangensaft und Pappbecher bringt Hans Seelig in den Gemeinderaum der Synagoge am Londoner Belsize Square. Der freischaffende Komponist, der als Neunjähriger mit dem Kindertransport über Schwe- den nach England kam, gefällt sich in koketten Bemerkungen über koscheres Essen und seine Kompositionen: »You wouldn’t like them, they are ultramodern« (Sie würden sie nicht mögen, sie sind ultramodern).
Jeden Montagabend treffen sie sich hier, knapp zwei Dutzend Mitglieder und Gäste. Sie teilen alle das Emigrantenschicksal. Etwa zwei Drittel von ihnen sind jüdischer Herkunft, ein Drittel stammt aus dem Milieu deutscher Widerstandskämpfer. Wie Hans Seelig kam auch Julia Schwartz mit einem Kindertransport nach England. Die 77Jährige ist Sprecherin des Clubs und begrüßt den Besuch aus Deutschland mit leicht hessischem Akzent. Freundlich wechselt die geborene Frankfurterin bald zum Du und erzählt von »den Alten«, die mit dem Club mitten im Weltkrieg ein Forum für deutsche Kultur gegründet hatten – einen Gesprächskreis, der sich als bürgerlich- liberal verstand. Und die Jungen? Sie sind fast alle jenseits der 70 und nehmen unaufgeregt in den Stuhlreihen Platz. Der wöchentliche Ausflug zu einem Ort deutscher oder englischer Kultur ist hier lange praktizierte Routine. Seit drei Generationen hat der Club namhafte Referenten zu Gast wie Otto Lehmann-Russbüldt, den Gründer der deutschen Liga für Menschenrechte, oder die Schriftstellerin Mechthilde Lichnowsky, eine Freundin Harry Graf Keßlers, Hofmannsthals und des Wiener Sprachkritikers Karl Kraus.
An diesem Montag geht es um das Schicksal von Immigranten in der Universitätsstadt Oxford. Um die Situation in jenen Kriegsjahren also, aus der heraus der Verein sich gründete. In Auszügen aus ihrem Buch schildert die Referentin Irene Gill das Mißtrauen, mit dem viele Briten den Exilanten aus Hitler-Deutschland begegneten. Wie Männer als potentielle Spione auf der Isle of Man interniert wurden. »Her Majesty’s most loyal enemy aliens« witzelten damals die Flüchtlinge über ihren prekären Status im Königreich: »Die äußerst treuen feindlichen Ausländer ihrer Majestät.« Vor allem die Kinder bekamen den enorm großen Anpassungsdruck zu spüren. Referentin Irene lernte als Mädchen auf Biegen und Brechen Englisch, um den Makel der deutschen Herkunft zu verwischen. Und schämte sich, wenn die Eltern auf der Straße deutsch sprachen.
Der Satz von den »äußerst treuen feindlichen Ausländern« trifft auch den Humor der heutigen Mitglieder. Köpfe nicken, grinsende Blicke treffen sich. Eine Dame, die Tochter eines vor einem halben Jahr verstorbenen langjährigen Mitglieds, erinnert sich daran, wie sie es »gegen Mutters Willen« vermied, die Haare nach Art deutscher Mädchen zu flechten. Tatsächlich war der Club eine Antwort auf das Bedürfnis, die besondere Identität der zwischen die Fronten Geratenen zu reflektieren. Die Gründungsmitglieder waren vor der Emigration überwiegend im deutschen Kultursektor tätig gewesen. Nun galten sie weder in England noch in Deutschland etwas. So war das nach seinem Gründungsjahr 1943 benannte Forum noch viel mehr: geistige Heimat von Schriftstellern, Geisteswissenschaftlern und Künstlern.
Die einzige heute noch existierende Emigrantenorganisation in London wurde im Zwist mit dem damals weit größeren »Freien Deutschen Kulturbund« (FDKB) geboren. Dieser war einer Gruppe linksliberaler Autoren um den Dramatiker und Filmautor Hans José Rehfisch und den Publizisten Hans Flesch-Brunningen zu sehr ins Fahrwasser stalinistischer Agitation geraten. Sie verließen den FDKB und gründeten den »Club 43«. Die selbsternannte »Vereinigung des Geistes gegen allen Ungeist« zählte 200 Mitglieder. 1944 veröffentlichte der damalige Präsident Rehfisch die Essaysammlung In Tyrannos mit dem Untertitel »Vier Jahrhunderte Kampf gegen Unterdrückung in Deutschland«. Auf der Suche nach Traditionen für einen geistigen Neuanfang in Deutschland analysierten hier 15 Autoren deutsche Freiheitskämpfe und ihre Protagonisten. Die Themen reichen von den Bauerkriegen über das Jahr 1848, »Nietzsche und die Deutschen« bis hin zum »anderen Österreich und Karl Kraus«. Viele sahen damals in einer kompletten Negation alles Deutschen das Allheilmittel gegen das Nazitum. Noch ungewöhnlicher war, daß dieser Standpunkt von Emigranten vertreten wurde.
Über die kulturelle Verwurzelung der Mitglieder aus der ersten Stunde schrieb das langjährige Vorstandsmitglied Grete Fischer: »Die meisten waren gute Deutsche, mit deutscher Bildung verbunden wie mit jüdischer Ethik, in der Gerechtigkeit ein Lebenselement bildet.« Das Zitat stammt aus dem 1973 erschienenen Essay des Berliner Schriftstellers und Journalisten Jens Brüning über die Geschichte des Clubs, mit dem er seine 2004 in Deutschland veröffentlichte Übersetzung von In Tyrannos beschließt. Auch heute gelte es, für die Kultur einzutreten, schreibt Chairman Hans Seelig in seinem Geleitwort zu dieser Ausgabe. Der Vorsitzende sieht die Herausforderung heute allerdings eher im Widerstand gegen die modernen Medien. War Kultur im Dritten Reich durch Manipulation im Sinne des Faschismus bedroht, so ist es in Seeligs Augen heute die »starke Tendenz zur Volksverdummung und Vermassung«.
Seelig hat die Leitung des Clubs 1993 übernommen. Seitdem bemüht er sich um eine Akzentverschiebung. Englischer Kultur soll mehr Raum gegeben werden. »Der Verein hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt«, betont der ehemalige Hochschullehrer. Wer mit ihm und seinen Freunden spricht, der spürt: Das Emigrantenschicksal ist nicht mehr so prägend wie bei den Gründern. Nach mehr als 60 Jahren haben sie Wurzeln in Großbritannien geschlagen. Auch wenn die pointierte Perspektive akademischer Flüchtlinge verschwimmt, ist es jedoch auch heute noch geübte Praxis, das Tagesgeschehen kritisch zu reflektieren.
Auch Referentin Irene Gill provoziert mit ihrer Flüchtlingserfahrung Fragen zur aktuellen Politik. Gemünzt auf das multikulturelle England fragt ein Hörer, welche Bedingungen ihrer Meinung nach Einwanderer erfüllen müßten, damit Integration gelingen könne. Dann geht es um die umstrittenen Mohammed-Karikaturen. Welcher Stellenwert kommt der Religion beim Zusammenleben der Kulturen zu? Im öffentlichen Leben überhaupt keiner, findet Chairman Seelig, der bekennender Agnostiker ist. Und die jüdische Herkunft, bedeutet die ihm nichts? Der ehemalige Hochschullehrer hält religiöse Doktrinen für Käfige des Geistes. Dennoch: Man müsse wissen, woher man kommt.
Seelig wurde 1930 in Mannheim als einziger Sohn geboren. Als sein Vater, Teilhaber einer Firma für Möbelstoffe, 1937 das Geschäft schließen mußte, schickte ihn ein befreundeter Schweizer Kaufmann als Vertreter für St. Gallener Spitzen nach Skandinavien. So kam es, daß Seeligs Vater in der Nacht des Pogroms am 9. November 1938 bereits im Ausland war. In einer verschlüsselt formulierten Botschaft warnte ein früherer Angestellter und SS-Mann davor, nach Deutschland zurückzukehren. Daraufhin schickte die Mutter den neunjährigen Hans am 1. März 1939 mit einem Kindertransport nach Schweden. Schließlich gelang auch ihr die Flucht nach England zusammen mit ihrer Mutter. In Brighton fand die Familie fünf Monate später wieder zusammen.
Er sei wie eine Schlange durchgekommen, erzählt Seelig und macht Wellenbewegungen mit dem Arm. Doch so glatt, wie es der Erzählung zufolge wirken mag, war es wohl nicht. »Ich habe mir eine Kindheit erfunden, das Erlebte und Gelebte untrennbar verwoben«, heißt es in Seeligs Gedicht Lebenslauf. Seit 1963 lebt er in Hemel Heamstead, einem Städtchen im Norden Londons. Hier arbeitet er seit seiner frühzeitigen Pensionierung 1988 freischaffend als Komponist und Schriftsteller und engagiert sich für das »Anti-Racist Council« und die Labour Party.
Ganz besonders aber kümmert sich Seelig um die Alten im Club. Die 97jährige Heddy Friedman begrüßt er mit einem Glas selbstgemachter Orangenmarmelade, nachdem wir unseren Weg nicht nur durch den Londoner Verkehr, sondern auch über die verwinkelten Flure des jüdischen Altenheims gefunden haben. Die gelernte Kunstlehrerin war mit 30 Jahren aus Hamburg nach London geflohen. Sie heiratete einen Bielefelder Juden, hat zwei Kinder und drei Enkel. Fühlt sie nach all den Jahren wie eine Engländerin? »Nicht wirklich«, sagt sie. »Ich glaube nicht, daß man das kann.« Seelig unterbricht: »Das ist bei mir etwas anderes. Ich habe hier Schule und Universität besucht.« Dennoch sieht er sich lieber als »Europäer«. Während er schnell zwischen Englisch und Deutsch wechselt, bleibt Friedman bei Englisch.
Durch ihre ältere Schwester Berta Sterly, langjährige Club-Vorsitzende, stieß Heddy Friedman schon früh zum Kulturverein. Wenn sie an die Anfangszeit denkt, lobt die Tochter aus der wohlhabenden Druckerfamilie Wagner in Hamburg-Altona besonders eines: die »wunderbare« Freundlichkeit. »Es war mehr die Kultur als die Reli- gion, die uns zusammenbrachte.« Überhaupt sei sie ja nicht religiös erzogen worden und damit viel liberaler eingestellt als das Haus, in dem sie jetzt lebt. Verschmitzt amüsiert sich die alte Dame über den Rabbiner, den sie »the kissing cantor« nennen. »Stell’ Dir vor Hans, ich habe gestern abend zwei Küsse bekommen!«
Das ist die Gegenwart. Und die Zukunft des Clubs 43? »Hans, wie geht es weiter?« fragt Heddy. Allzu besorgt klingt das nicht. Immerhin stellte man sich diese bange Frage schon einmal. Vor 13 Jahren starb Heddys Schwester, Seeligs Vorgängerin. Wie es weitergeht, könne man doch nie wissen, sagt der Vorsitzende lächelnd: »Immerhin ist das jetzt schon 13 Jahre her. Und der Club ist immer noch da!«

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