von Sabine Brandes
Hier unten liegen die Nerven blank. Menschen werden hin- und hergeschoben, stöhnende Männer mit Wunden, gebrochenen Armen oder verstauchten Füßen liegen hinter dünnen Vorhängen, die in der Eile nur selten richtig zugezogen werden, eine junge Frau hat einen Nervenzusammenbruch und kann nicht aufhören zu weinen. Ob jung oder alt, die Menschen wimmern und bitten rund um die Uhr. Dazwischen hetzen Ärzte und Krankenschwestern hektisch von A nach B, die Patientenakten in der Hand. In der Notaufnahme des größten Krankenhauses von Haifa, dem Rambam, herrscht Hochbetrieb. Nichts Unnormales für einen Freitagmorgen.
Außergewöhnlich im Vergleich zu deutschen Verhältnissen aber scheint die ausgeprägte verbale Aggressivität. Die Atmosphäre ist aufgeladen und für Laien un-
übersichtlich. Es sind vor allem Angehörige, die drängen, meckern und murren, manchmal sogar schieben und schubsen. Hier wird ein Sanitäter von einem wütenden Ehemann zusammengestaucht, da er angeblich nicht schnell genug gefahren sei, dort zerrt ein Vater am Kittel des behandelnden Arztes, um ihn zurück an das Bett seines Sohnes zu beordern.
Vergangene Woche war es nicht mehr nur verbal. Die Gewalt gegen Ärzte wurde brutale Realität. Dr. Marius Guy, Urologe am Krankenhaus von Rehovot, wurde von einem Patienten mit einem Schraubenzieher niedergestochen und schwer an Rü-cken, Bauch, Arm und Schulter verletzt. Er überlebte nur, weil ein Kollege ihn rechtzeitig fand und sofort notoperierte. Der attackierte Mediziner behandelte den 64-Jährigen bereits seit Jahren. Zwar befindet sich der Arzt mittlerweile außer Lebensgefahr, doch ist nicht klar, ob er jemals wieder seine Arbeit aufnehmen kann. Vielleicht wird er gar für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen müssen.
Dr. Guy hatte dem Patienten an jenem Tag mitgeteilt, dass seine Operation erneut verschoben wird. Für nicht lebensbedrohliche Situationen ist das in Israel gängige Praxis, etwa wenn mehr Notfälle eintreffen als geplant. Nach der Attacke legte das Krankenhauspersonal geschlossen den Betrieb still, indem es jegliche Behandlung von Patienten ablehnte. Nur die Notfallmedizin lief noch normal.
Der Angriff ist kein Einzelfall: 1998 tötete ein Patient seinen Arzt, vor zwei Jahren streikte das gesamte Soroka-Krankenhaus in Beer Schewa. Innerhalb von einer Woche war es dort dreimal zu Gewalt gegen Ärzte und Krankenschwestern gekommen. Erst vor drei Tagen gab es einen Angriff in einer Poliklinik. »Tatsächlich gibt es fast täglich irgendwelche Übergriffe auf unser medizinisches Personal«, zeichnet die Ärztevereinigung ein düsteres Bild. Doch kaum jemand spreche deutlich darüber. Und die Mediziner haben keine Wahl. Sie müssen jeden behandeln, der es verlangt, auch wenn dieser gefährlich ist. Methoden, sich zu schützen, gibt es kaum.
»Ich habe mich oft bedroht gefühlt, sehr oft, aber habe es immer verdrängt«, gibt der junge Arzt im grünen Kittel zu, der in der Notaufnahme des Rambam-Krankenhauses seinen Dienst tut. Wie oft er schon in Situationen war, in denen er beleidigt wurde oder Anfänge von körperlicher Gewalt spürte, kann er nicht mehr zählen. Nach dem Angriff im Kaplan-Hospital in Rehovot gehe er jeden Tag mit einem mulmigen Gefühl zur Arbeit. »Mir ist jetzt erst richtig klar geworden, auf welchem Pulverfass ich mich eigentlich befinde.« Seinen Namen möchte er nicht nennen, denn »darüber soll man als Mediziner nicht reden, Angst hat hier ja nichts zu suchen. Wir sind diejenigen, die uns beherrschen müssen.«
Dennoch hat die Geduld vieler ein En-
de. Am Montag vergangener Woche protestierten Mediziner vor dem Gesundheitsministerium in Jerusalem »gegen die Hilflosigkeit« und skandierten: »Wir helfen und werden dafür angegriffen. Damit muss Schluss sein!« Von Minister Jakov Ben-Yitzri wollen sie einen Plan und sofortige Maßnahmen, die den ständigen Übergriffen ein Ende bereiten. Yoram Blashar, Vorsitzender der Ärztevereinigung, erklärte vor der Demonstration: »Wenn ein Doktor, unser Freund, verletzt wird, gibt es nur einen Tagesordnungspunkt – und der heißt Gewalt gegen Ärzte.« Nach einer Be-
sprechung mit Ben-Yitzri gab sich Blashar enttäuscht und besorgt: »Das Problem ist noch nicht in das Bewusstsein des Ministers vorgedrungen. Es gab keine konkreten Vorschläge, nur leere Worte.« Der Gesundheitsminister übernehme keine Verantwortung, er beschuldige lediglich andere.
Die verbale Gewaltschwelle in Israel ist nicht erst seit der vergangenen Woche niedrig. Wortreiche Übergriffe sind alles andere als die Ausnahme, schnell fallen nicht nur bei hitzigen Gemütern sämtliche Höflichkeitsregeln, ob im Gedränge im Supermarkt oder auf der Straße. Vornehme Zurückhaltung ist eher selten. Seit einigen Jahren kippt die Stimmung jedoch immer mehr. Wenn es früher ein wütendes Geschimpfe mit Drohgebärden war, wird es heute schnell handgreiflich. Die Polizei registriert vor allem im Straßenverkehr einen enormen Zuwachs an gewalttätigen Übergriffen.
»In extremen Stresssituationen überreagieren die Menschen schnell«, erklärt die Tel Aviver Psychologin Chaja Cohen. Gepaart mit der bedrohlichen Situation in Israels Alltag führe das oft zu Kontrollverlust. »Ein großes Problem dabei ist die soziale Akzeptanz. Oft wird der Angreifer ›verstanden‹ und zum Opfer erklärt«, weiß Cohen. Tatsächlich, so die Ärztevereinigung, würden Übergriffe auf medizinisches Personal fast nie geahndet. Und wenn, seien die Strafen lächerlich gering. Man schiebt es auf den enormen Druck, unter dem die Menschen in Ausnahmesituationen stehen. »Gewalt gegen Menschen, die helfen – ob verbal oder körperlich – muss sozial geächtet werden«, ist Cohen sicher. »Null Toleranz, erst dann wird sich etwas ändern.«