von Claudia Schade
Der Händedruck ist fest, die braunen Augen blicken klar und zielstrebig. Filip Fischer und seine Familie hat es in den Wirren des Zweiten Weltkriegs aus den Balkan und sogar über das Mittelmeer vertrieben. Und dennoch macht der heute 63-Jährige nicht den Eindruck eines getriebenen Mannes. Von drahtiger Statur, sportlich gekleidet mit robusten Schuhen sitzt er lächelnd in der Bibliothek der jüdischen Gemeinde von Triest. Er ist – im übertragenen Sinn – die Verkörperung der Gemeinde: nicht mehr der Jüngste, aber agil und voller Ideen.
Sein Vater war aus Ungarn, die Mutter deutscher Herkunft. Sie lebten in Zagreb, bis sie von dort vertrieben wurden und sich im kroatischen Split niederließen. Als der Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg mit eiserner Hand regierte, wollte die Familie das Land verlassen. Einzige Möglichkeit: Auswandern nach Israel. Dort blieben sie ein Jahr, um dann an die Adria zurückzukehren. Sie fanden Unterschlupf bei Filips Großeltern, die in Triest lebten. Gesprochen wurde zu Hause ungarisch, kroatisch, deutsch, slowenisch und italienisch.
Ähnlich wie Fischers Geschichte liest sich auch die der Triestiner jüdischen Gemeinschaft: eine mitteleuropäische Mischung mit orientalischem Einschlag. »Wir haben in Triest zwar nur noch wenig Juden. Es sind etwa 600«, sagt Andrea Mariani, Präsident der Gemeinde. »Aber sie kommen von überall her.« Anfang des 20. Jahrhunderts flüchteten zum Beispiel Juden von Korfu nach Triest. In der Hafenstadt an der Adria fanden sie nicht nur freundliche Aufnahme, sondern auch Arbeit.
Heute sind sie es, die das Leben der Gemeinschaft maßgeblich prägen. »Die Spuren der großen Familien aus Habsburger Zeiten haben sich dagegen verloren«, erzählt Mariani. »Wegen der bunten Mischung fühlen wir uns als Mitteleuropäer.« So ist fast das gesamte Archiv des jüdischen Lebens auf Deutsch verfasst. Und zwei Synagogen, in denen man nach unterschiedlichen Riten betete, wurden vor 20 Jahren verschmolzen. »Heute werden die Gottesdienste askenasisch mit sefardischen Bräuchen gehalten«, sagt Mariani. »Es ist ein eigener Triestiner Ritus.«
Die einstmalige Größe und Erhabenheit des jüdischen Triest fällt jedoch auch heute noch sofort ins Auge. Mächtig und massiv erhebt sich die Synagoge im Zentrum der norditalienischen Großstadt an der Adria. Gebaut von 1908 bis 1912, ist die Synagoge ein Stein gewordener Ausdruck des Stolzes der jüdischen Gemeinschaft. Viele Mitglieder waren bedeutende Persönlichkeiten des städtischen Lebens: Unternehmer, Künstler, Industrielle, Architekten. 6.000 Mitglieder hatte die Gemeinschaft vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie war damit nach Rom die zweitgrößte Italiens.
500 Jahre lang gehörte Triest zum Habsburger Reich. Hier ernannte Karl IV. die Stadt zum Freihafen, was für regen Handel mit der ganzen Welt sorgte und eine liberale Atmosphäre schuf. Und hier erließ Joseph II. ein Toleranzpatent, das den Juden weitreichende Freiheiten gewährte. Aus Triest stachen später mehr als 150.000 Menschen in See, um ihr Heil in Israel zu finden. Ihre erste Anlaufstelle in der Stadt war ein Büro in der Via del Monte. Dort besorgte man den Auswanderern Papiere, Unterkunft und etwas zu essen. Heute beherbergt das Gebäude ein Museum sowie die jüdische Schule.
In ihren Problemen ähneln die Norditaliener heute anderen europäischen Gemeinschaften. »Wir haben zu wenig junge Menschen«, bedauert Mariani. »Nur etwa 15 Prozent sind unter 30.« Viele Paare sind gemischt-konfessionell. Die Eltern wollen ihren Kindern die Entscheidung überlassen, welchem Glauben sie angehören möchten. »Das führt aber dazu, dass sich viele für den in Italien fast allgegenwärtigen Katholizismus entscheiden«, sagt Mariani und ergänzt: »Ich selbst kenne viele katholische Gebete.«
Dennoch kann sich die Gemeinde nicht vorhalten lassen, zu wenig für die Jugend zu tun. In Triest ist eine der ältesten und eine der wenigen jüdischen Schulen Italiens beheimatet. In der staatlich anerkannten Institution lernen Kinder seit mehr als 200 Jahren vom Krippenalter bis zum Ende der Grundschulzeit nicht nur die jüdischen Riten kennen, sondern auch Algebra und Schreiben. Es gibt zudem eine Sonntagsschule, und besonders begabte Kinder und Jugendliche werden ermutigt, die Rabbinerlaufbahn einzuschlagen. Dem zunehmenden Alter der Mitglieder wird durch ein eigenes Altersheim Rechnung getragen. Um die Plätze bewerben sich auch betagte nicht jüdische Triestiner.
Eine andere Schwierigkeit ist der tägliche Kampf mit den öffentlichen Institutionen. So unterhält die Gemeinde fünf Friedhöfe, die über die gesamte Region Friaul Julisch-Venetien verstreut sind. »Wir müssen für alle Kosten selbst aufkommen«, bedauert der Präsident. »Der Staat unterstützt uns in keiner Weise.« Doch Lichtblicke gibt es auch. So unterstützt die Regionalregierung den alljährlich stattfindenden Tag des jüdischen Lebens mit Finanzspritzen und Werbung.
Andrea Mariani sieht hier eine Hauptaufgabe als Präsident. »Wir müssen unsere Aktivitäten mehr kommunizieren«, sagt er. So können sich Interessierte dreimal wöchentlich durch die Synagoge führen, das jüdische Leben im Allgemeinen und das der Triestiner Gemeinde im Besonderen erklären lassen. Es gibt jährlich Hunderte Kontakte mit Juden aus der ganzen Welt, deren Vorfahren aus Triest stammen und die mehr über ihre Ursprünge erfahren möchten. »Wir müssen viel mehr für den Tourismus tun«, beschwört Mariani.
Ariel Haddad ist der Direktor des kleinen Museums. Nicht ohne Stolz führt er durch die Sammlung von Judaika, verweist auf das »vermutlich älteste Toraschild Europas« (gefertigt 1593) und präsentiert ein originales Statut von Maria Theresia, welches das jüdische Leben in Triest regelte.
Dieser Sammlung hat es Haddad zu verdanken, dass er nun auch Rabbiner in Ljubljana ist. Vor acht Jahren präsentierte er eine Ausstellung in der slowenischen Haupt- stadt. »Dabei habe ich einige Mitglieder der dortigen Gemeinde getroffen«, erzählt Haddad. Es entwickelten sich regelmäßige Treffen, man beging die Festtage gemeinsam, mietete schließlich drei Räume für eine Synagoge. Die Gemeinschaft wuchs auf 200 Personen. Seit 2003 ist Haddad ehrenamtlicher Rabbiner in Ljubljana. Ein- bis zweimal im Monat fährt er die gute Stunde über die Autobahn in das Nachbarland. »Das Schicksal der kleinen Gemeinschaften ist es zusammenzuarbeiten«, ist er sich sicher. »Nur so können sie sich weiterentwickeln.«
Auch für den Präsidenten Andrea Mariani soll das gemeinsame jüdische Leben nicht an den Staatsgrenzen haltmachen. Er träumt von einem europäischem Begegnungszentrum in Triest, das sich aus den bislang eher zufälligen Besuchen entwi- ckeln soll. »Früher gab es auch einen regen Austausch«, sagt er. »Doch nach dem Zweiten Weltkrieg sind wir hier in eine Art Dornröschenschlaf gefallen.«
Und Filip Fischer? Er gehört zu den etwa zehn Gläubigen, die nicht nur in Triest, sondern auch in Slowenien Gemeindemitglieder sind. Und im Unterschied zu Rabbiner Haddad, der auf Englisch sprechen muss, spricht Fischer slowenisch. »Jede Gemeinde hat ihre eigene Geschichte«, sagt er. »Aber es gibt einen gemeinsamen Teil. Den muss man nur suchen.«