von Rabbiner Joel Berger
Wir beginnen an diesem Schabbat mit der Lesung des dritten Mosebuches, Wajikra. Dieses Buch wird auch »Torat Kohanim«, Priesterkodex, genannt. Denn es enthält Regeln darüber, wie die Priester, die Kohanim, auf dem Altar im Bet-Hamikdasch, dem Heiligtum im alten Jerusalem, die Opfer darbringen sollten. Als aber das Heiligtum zerstört wurde – zum ersten Mal 586 v.d.Z. durch die Babylonier und danach, Jahrhunderte später, im Jahre 70 n.d.Z. durch Vespasian und Titus –, hörten die Tempelopfer auf. Die Römer zerschlugen den antiken jüdischen Staat und vertrieben unsere Vorfahren aus ihrem Lande. Sie wurden in alle Welt zerstreut.
Anstelle der Tempelopfer führten die Gelehrten des Talmuds die Andacht, das Gebet ein. Die rabbinische Exegese leitet dies unter anderem aus einem allegorischen Vers des Propheten Hoschea ab: »Nehmt diese Worte mit euch und bekehrt euch zum Herrn und sprecht zu ihm: ... so wollen wir opfern die Farren unsrer Lippen« (Hoschea 14,3). Sie meinten, dass dies sogar bis zum Kommen des Maschiach, des gesalbten Erlösers so bleiben müsse. Bis vielleicht eines Tages wieder die Kohanim in Jerusalem ihren heiligen Dienst versehen dürfen.
Jedoch dürfe die Erinnerung an den Tempel, die Kohanim und die von der Tora vorgeschriebenen Opfer aus dem verbalen Andachtskult der gesprochenen Gebete nicht getilgt werden. Es soll damit betont werden, dass alle Optionen nur bei G’tt liegen. Er möge eines Tages unsere Zukunft oder unsere Endzeit bestimmen. Bis dahin aber darf aus der Tora nichts entfernt werden.
Diese Einstellung des tätigen Harrens unseres Volkes bildet den wesentlichen Teil unseres Messianismus, unseres Glaubens an die Erlösung der Welt. Bis dahin aber wird aus der Heiligen Schrift über die Opferarten gelesen, sie werden erläutert und für die heutige Zeit kommentiert. Auch dies bildet einen Teil jüdischer Spiritualität.
In diesem ersten Abschnitt des dritten Mosebuches wird zunächst über die Sühneopfer gelesen und gelehrt. Auch wenn heute, um für Verfehlungen zu entschädigen, keine Opfer mehr dargebracht werden, ist es doch lehrreich zu erfahren, welche Unterschiede die Tora macht.
Das Gericht soll sehr genau den Auslöser der Verfehlung unter die Lupe nehmen. Beging einer den Fehler, die Sünde, aus einem Irrtum heraus, oder lag eine bewusste, gewollte Verletzung der Gesetze zu Grunde? Die Antwort auf diese Frage war wichtig für die Bemessung des Sühneopfers.
Vor allem unterscheidet die Tora zwischen der Verfehlung des Individuums und den sündhaften Fehlern der Gemeinschaft. Auch war es nicht das Gleiche, ob jemand aus dem einfachen Volk eine Verfehlung beging oder aber ein Priester oder Fürst. Die Sünden der Herrschenden beurteilt die Tora weitaus strenger, und ihre Entschädigungsopfer waren größer als die des Einzelnen aus dem Volke. Denn die Verfehlungen der Herrschenden blieben für die Gemeinschaft selten ohne Folgen.
Das einfache Volk, die Handwerker und Tagelöhner sollten nur geringfügige Werte opfern müssen, die, ins Verhältnis gesetzt, jedoch den Opfergaben der Reichen gleichkamen. Der Grundsatz der Tora über die soziale Gerechtigkeit kommt also selbst bei Verfehlungen und ihrer Sühne zum Ausdruck.
Unsere Weisen und Schriftgelehrten betonen: Wer bereit ist, ein Opfer für seine Verfehlungen darzubringen, der bekennt sich zu seinen Fehlern und ordnet sich einzig dem Herrn unter, dem Schöpfer, der allein makellos ist.
Zwischen den unterschiedlichen Opferarten – Brandopfer, Friedensopfer und Sündenopfer – nimmt das Opfer eines Herrschers einen besonderen Platz ein. »Versündigt sich der Fürst und tut (vielleicht) aus Versehen eines der Verbote des Herrn, die nicht getan werden sollten, und gerät in Schuld, ... so bringe er sein Opfer« (3. Buch Moses 4, 22-23).
Für die Tora war es selbstverständlich, dass der Herrscher, wie jeder andere, ein Opfer bringen musste. Der Kommentator Raschi, der im 10. Jahrhundert in Deutschland lehrte, bemerkt zu dieser Torastelle: »Glücklich kann sich das Zeitalter schätzen, in dem sogar der Herrscher darauf achtet, für sein eigenes Versehen eine Sühne zu bringen.« Zu Raschis Zeiten war das bestimmt nicht oft der Fall. Er schätzte sich glücklich, weil er dachte: Wenn sogar der Fürst einen Fehler zugibt und ein Sühneopfer darbringt, dann wird ein jeder aus dem Volke sich zu seiner Schuld bekennen.
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.