von Hannes Stein
Ich freue mich schon auf Pessach. Es ist eigentlich mein Lieblingsfest, vor allem deshalb, weil es so prototypisch jener Beschreibung entspricht, mit der einst ein Witzbold jüdische Feste auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner brachte: »Unsere Feinde haben versucht, uns zu vernichten. Es ist ihnen nicht gelungen. Lasst uns was essen!« Zu Pessach fische ich mir immer Michael Walzers großes kleines Buch Exodus und Revolution aus dem Regal und lese dort nach, wie der Bericht vom Auszug Israels aus Ägypten bisher noch fast jede Befreiungsbewegung inspiriert hat: angefangen bei den Puritanern im England des 17. Jahrhunderts, die ihren König köpften, über die amerikanischen Revolutionäre von 1776, die in der Neuen Welt biblische Geschichte nachspielten, bis zu den schwarzen Sklaven, die den Rassisten in den Südstaaten ihr »Let my people go!« entgegenschmetterten.
Ein Freund meinte zwar mal: »Aus Freude darüber, dass der Heilige-gesegnet-sei-er uns aus Ägyptenland mit starker Hand und mit ausgerecktem Arm befreit hat, sind wir nun verdonnert, uns eine Woche lang von Pappendeckel zu ernähren.« Aber dieser Freund tut der Mazze Unrecht. Wirklich. Zum einen kann sie gut schmecken – vorausgesetzt, dass sie halt gut ist. Mazze von hervorragender Qualität hat dieses nussartige Aroma, das den Gourmet die Augen schließen und ein langgezogenes »Oj wej« ausstoßen lässt. Zum anderen kann man mit Mazze großartige Dinge anstellen: sie zu Mazzenbrei verarbeiten, sie mit Butter und bitterer Orangenmarmelade genießen, sie zerkrümeln und anstelle von Sägespänen auf den Boden rieseln lassen. Als ein- deutig unkoscher weise ich jedoch die Praxis einer englischen Bekannten zurück, die sich ihre Mazze mit Marmite bestreicht. Das ist ein ekelhaftes dunkles Zeug, vor dem selbst der anglophilste Mensch sofort Reißaus nimmt. In unserem Zusammenhang wichtiger: Marmite besteht im Wesentlichen aus Hefe. Es ist Chometz pur, sozusagen die platonische Idee von Chometz. Wenn Marmite mit Mazze in Berührung kommt, sollte sich die ganze Geschichte eigentlich mit einem lauten »Puff« in harte Strahlung auflösen – wie es ja auch geschieht, wenn Materie auf Antimaterie trifft.
Um zum Hauptpunkt zurückzukommen: Pessach ist ein schönes Fest. Und doch habe ich mit den vorüberhuschenden Jahren ein immer stärker werdendes Unbehagen dabei empfunden. So neigen Sederabende zu einer gewissen Überlänge. Da die Rabbiner sich beim Zusammenstellen der Haggada von den griechischen Symposien inspirieren ließen, packten sie alles in das Ritual hinein, was der Spätantike gut und teuer war. Bevor wir unsere Löffel in die Suppe tauchen, müssen wir also erst eine imposante rituelle Wegstrecke (Kaddesch, Urchatz, Karpas, Yachatz, Maggid, Rachtzah, Motzie, Matza, Maror und Korech) absolvieren. In einem Wort: wenig Vorspeisen, viel Text. Karl Kraus, der ein jüdischer Selbsthasser von Gnaden war, hat dazu einmal angemerkt: »Ich verstehe diese Juden nicht. Bevor sie anfangen zu essen, lesen sie einander stundenlang die Speisekarte vor.« Könnte man das Ganze nicht auch etwas schneller hinter sich bringen? In einer halben Stunde etwa?
Zum Glück gibt es in Amerika, dem goldenen Land der praktischen Vernunft, eine Haggadah für Hungrige. Mit ihrer Hilfe lässt sich problemlos ein »30 Minuten Seder« gestalten. Wie der Untertitel verspricht, wird bei dieser Liturgie »Kürze mit Tradition« verbunden (und die Sache kostet online auch nur 5,95 Dollar!). »Es ist eine Geschichte mit einem traurigen Anfang und einem glücklichen Ende«, heißt es gleich zu Beginn. Diese Haggada folgt durchgängig dem schönen Prinzip: nur die Hits, alles andere streichen. Also »Ma nischtanah« ist drin, von »dajenu« finden sich immerhin zwei Strophen, ferner die Brachot für Mazze und Wein. Schluss, aus. Mehr ist aber doch im Grunde auch nicht nötig, wenn man ehrlich ist. »Ihre Haggada hat meinen Seder gerettet!«, merkte laut Klappentext ein gewisser Sally Cohen zu diesem nützlichen Büchlein an. »Es war sehr nett, von den Gästen keine Beschwerden à la ›Wann essen wir endlich?’ zu hören.« Den lieben Kleinen lassen sich die vier Fragen von »Ma nischtanah« übrigens mit Hilfe von vier Fingerpuppen nahebringen (12,99 Dollar), die schon von Weitem so aussehen, als seien sie pädagogisch wertvoll.
Ich habe mir von derselben Quelle – der Webseite www.popjudaica.com – einen Klodeckelbezug kommen lassen, der so aussieht, als sei er aus Mazze gewebt, und in großen Goldlettern die Aufschrift trägt: »Let my people go« (20 Dollar). Das hatte mir in meiner Wohnung in Brooklyn gerade noch gefehlt. Mit gespannter Erwartung blicke ich den Reaktionen meiner Gäste entgegen. Auch eine Kippa mit Mazzemuster habe ich mir bestellt (8 Dollar). Zwecks Inspiration trage ich sie gerade jetzt auf dem Kopf, während ich dies tippe, und bin zuversichtlich, dass ich Schreie des Entzückens ernten werde, wenn ich meine neue Kopfbedeckung am Abend des 8. April meinen modern-orthodoxen Freunden in der Upper West Side präsentiere. Übrigens handelt es sich tatsächlich und ohne alle Ironie um eine gute Kippa: keines von diesen kleinen Modellen, die einem ständig vom Schädel rutschen, sondern eine große, bequeme, leichte Jarmulke. Und es steht kein Quatsch drauf.
Die Kippa und der Klodeckelbezug lassen mein Herz gewiss höher schlagen. Und doch bleibt ein leises Gefühl des Unbehagens. »Etwas fehlt«, wie es in Brechts Oper Maha-
gonny heißt. Aber was nur? Nun, ganz ohne Zweifel dies: eine »Moses Action Figure«, die unter einem Arm die Steintafeln mit den Zehn Geboten, in der anderen Hand aber einen Hirtenstab trägt und so verklärt und vergeistigt dreinschaut wie Charlton Heston in The Ten Commandments (14,99 Dollar). Die beste Szene in jenem Film ist ja, als der schöne junge Pharao (Yul Brynner) zu seiner schönen jungen Frau heimkehrt – sein Erstgeborener ist tot, seine Armee ist soeben mit Mann und Maus in den Wellen des Schilfmeeres ersoffen – sich erschöpft auf seinen Thron wirft und seufzt: »Moses’ Gott IST Gott!« In der Tat. Will sagen: Erst mit dieser handgroßen Moses-Statue aus Vollplastik ist der Sederabend komplett. Da die winzigen Steintafeln und der Hirtenstab entfernt werden können, empfiehlt es sich, diese Utensilien zusammen mit dem Afikoman zu verstecken, die Statue aber gleich neben der angebratenen Lammkeule auf der Sedertafel zu platzie- ren. Schließlich kommt Moses in der Haggada nur an einer einzigen Stelle vor – und dort nur ganz beiläufig. Dieser Fehler muss dringend korrigiert werden.
Eines habe ich mir bei www.popjudaica.com am Ende dann aber nicht bestellt: den batteriebetriebenen singenden tanzenden Mazzemann (16 Dollar). Er tönt: »He’s my Matzahman / Oh yeah my Matzahman / He can cook it in the oven / He can fry it in the pan / Stir it up / Sing it loud / For the Matzah / Yeah my matzah / Oh, I love you Matzahman!«
Doch bei aller Liebe zum wunderbaren Amerika im Allgemeinen und der Popkultur im Besonderen: Ein klein wenig sollte die Würde des Pessachfestes doch gewahrt werden.