von Ayala Goldmann
Wen kümmert an diesem Kinoabend schon Alexander Lukaschenko, der »letzte Diktator Europas«? Die zickigen Teenies vor den Türen des »Kinotheater Belarus« wohl kaum. Fast hysterisch wirkt der Erlebnishunger der jungen Weißrussinnen: kurze Röcke bei minus 18 Grad, Make-up mit deftigem Rouge, Lipgloss in Tiefrosa, glänzende Augen und silbrige Handys. Über die staatliche Mobilfunkgesellschaft könnte das Regime jedes Gespräch überwachen, aber das verdirbt den Mädchen heute abend in Brest, der Festungsstadt an der polnischen Grenze, nicht die Laune.
Gewiß, Weißrußlands Präsident Lukaschenko unterdrückt die kritische Presse, läßt vor den Wahlen – an diesem Sonntag, dem 19. März – Oppositionelle und Journalisten zusammenschlagen, isoliert sein Land von der EU und den USA. Von den Plakatwänden in Brest lächeln nur noch weißrussische Models, denn Lukaschenko soll westliche Werbung mit der Begründung untersagt haben, die Mädchen aus dem eigenen Land seien ebensoschön. Womit er ausnahmsweise Recht hat. Aber der Westen ist dennoch auf allen Leinwänden zu finden: Im »Belarus«, dem größten Kino von Brest, gibt es »Harry Potter« und »Die Chroniken der Narnia«, auf dem Markt kann man Granatäpfel kaufen, im Winter. Auf den ersten Blick erscheint die Diktatur erträglich – wären da nicht die Zweifel, ob der Gesprächspartner sagen darf, was er denkt. Und manchmal verzichtet der Journalist darauf, überhaupt zu fragen.
Dort, wo an diesem Abend »Stolz und Vorurteil« gezeigt wird, stand einst die größte Synagoge von Brest. Nur noch eine Tafel innerhalb des Betonbaus »Kinotheater Belarus« erinnert an das alte Gebäude. Wie leben heute die Juden von Brest? Wo finden ihre Gebete Raum? Am nächsten Morgen freut sich Boris Bruk, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, über den unerwarteten Besuch deutscher Journalisten. Im Gemeindezentrum, einem Neubau mit niedriger Decke, einem Teeraum, vielen Büchern und Kinderspielzeug, verteilt eine etwa 50jährige Frau, ein rundlicher Babuschka-Typ, gerade Lebensmittel an Bedürftige. Auf mehreren Tischen stapeln sich Zuckerpakete, Grieß, Milchtüten und Orangen. Gespendet hat sie die amerikanisch-jüdische Organsiation Joint Distribution Committee, kurz JDC, die dreimal im Monat eine solche Aktion möglich macht. Ältere Frauen in dicken Mänteln stehen Schlange und unterhalten sich ganz entspannt auf russisch. »Heute haben wird den Leuten sogar ein halbes Huhn mitgegeben, das war richtig groß«, freut sich die Gemeindemitarbeiterin. Auch die Diabetiker hätten geeignete Lebensmittel erhalten.
In Weißrußland herrscht kein Hunger. Auf dem Land kommen Rentner sogar ganz gut über die Runden, wenn sie in ihren Gärten Obst und Gemüse für den Eigenbedarf anbauen. Aber in den Städten ist das Leben schwieriger und teurer. Ein Glück für die Gemeinde, daß Lukaschenko der amerikanischen Hilfsoganisation Joint keine Steine in den Weg legt. Auch in anderen Fragen hofft der Gemeindevorsitzende Boris Bruk auf die Mithilfe des Staates – beziehungsweise des Stadtrats. Denn leider, sagt der alte Mann, seien alle Brester Synagogen während der Zeit der Sowjetmacht an andere Organisationen übergeben worden. »In dem einem Gotteshaus ist heute eine Sportschule für Kinder, eine zweite Synagoge wurde zum Klub »Progreß«, dem früheren Gewerkschaftshaus. Und die einst größte Synagoge in Brest wurde praktisch vernichtet.« In Weißrußland gibt es kein Restitutionsgesetz für jüdisches Eigentum vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Brester Juden versammeln sich deshalb im Gemeindehaus zum Gebet.
Allerdings, sagt Bruk, könne er sich vorstellen, daß sich die Situation demnächst verbessert. Denn immerhin habe der Stadtrat 10.000 Dollar für die Gedenktafel ausgegeben, die an die Familie von Menachem Begin erinnert. Der frühere israelische Ministerpräsident wurde in Brest geboren, seine Mutter von den Nazis ermordet. Die Verfolgung während der Besatzung 1941 bis 1945 hatte die weißrussischen Juden, vor dem Zweiten Weltkrieg mehr als 700.000 Menschen, besonders hart getroffen: Fast zehn Prozent aller ermordeten europäischen Juden stammten aus Belarus, das nach dem Krieg der Sowjetunion eingegliedert und 1991 unabhängig wurde.
Heute leben noch etwa 50.000 bis 70.000 Juden im Land, die Zahl der Gemeindemitglieder liegt weit darunter. Dennoch zeichnet sich das Judentum in Belarus durch ausgeprägten Pluralismus aus. Sogar in Brest, einer Gemeinde mit 600 Seelen, findet sich eine traditionell-orthodoxe Strömung, eine kleine progressive Gemeindschaft – und natürlich Chabad. Die Liberalen, beklagt Boris Bruk, hätten in ganz Belarus nur einen einzigen Rabbiner. Chabad geht es da besser. Die Lubawitscher sind in mehreren weißrussischen Städten vor Ort; in Brest repräsentiert sie Chaim Rabinowitz. Der 27jährige, ein milchgesichtiger Jungrabbiner in schwarzem Anzug und mit Stoppelbart, stammt aus Jerusalem. In Brest hat er geholfen, einen Kindergarten aufzubauen, eine Schule einzurichten und eine neue Betergemeinschaft zu etablieren. Chaim Rabinowitz sieht nur einen Grund, der ihn dazu bringen könnte, Weißrußland wieder zu verlassen. »Ich bleibe hier, bis der Messias kommt«, verkündet der junge Mann in fließendem Hebräisch. »Unser Führer, der Rebbe von Lubawitsch, hat uns gelehrt, daß der Messias noch in unserer Generation erscheinen könnte, an jedem Tag und zu jeder Stunde.«
Antisemitismus, sagt Rabinowitz, habe er von offizieller Seite in Brest nie gespürt: »Bei der Stadtverwaltung empfängt man mich sehr schön.« Wer sich in der jüdischen Gemeinde von Brest umhört, vernimmt kein böses Wort über das Regime. Der Grund muß aber nicht zwangsläufig sein, daß alle so zufrieden wären. Denn im Dezember hat das präsidentenhörige Unterhaus in Minsk ein neues »Sicherheitsgesetz« verabschiedet. Danach riskiert bis zu mehreren Jahren Haft, wer den weißrussischen Staat oder dessen Regierung im In- oder Ausland diskreditiert oder ausländischen Staaten oder Organisationen »Falschinformationen« über die politische, wirtschaftliche oder militärische Situation Weißrußlands zur Verfügung stellt.
»Leider muß ich sagen, daß die jüdische Bevölkerung der Stadt immer älter wird«, bedauert Boris Bruk. Das liegt vor allem daran, daß viele jüngere Juden nach Israel, in die USA oder nach Deutschland auswandern, um dort zu studieren und Arbeit zu finden. Und wenn sie erst einmal weg sind, kommen sie selten wieder zurück. Einige Brester Juden, berichtet Bruk, hätten aktuelle Ausreiseanträge nach Deutschland gestellt und warteten noch auf den Bescheid. Mehrere seiner Verwandten gingen in die Vereinigten Staaten; der Bruder des Gemeindevorsitzenden lebt mit Frau und Kindern in Israel.
Er selbst lebt gerne in Brest und versucht, aus seiner Situation das Beste zu machen. »Der Staat unterstützt uns finanziell überhaupt nicht, aber er hilft uns bei manchen Aktivitäten«, sagt Boris Bruk. »Wir haben diese Räume im Gemeindezentrum für sehr wenig Geld gepachtet. Und jetzt haben wir die Stadt gebeten, uns eines der alten Gebäude oder ein neues Grundstück für eine Synagoge zur Verfügung zu stellen.«