von Harald Loch
Musste der Vater seiner jüdischen Frau dies antun: schon gleich nach dem Krieg aus England zurückzukehren in das von alten Nazis wimmelnde Wien? Erica Fischer hat jetzt mit Himmelstraße ein Buch vorgelegt, in dem sie auf verschiedenen zeitlichen Ebenen von ihrer Familie und von sich selbst erzählt.
Die Muttersprache ihrer Mutter war Polnisch, die ihres Vaters Deutsch. Erica Fischer ist während des Kriegs 1943 in England geboren. Bevor sie zur Schule kam, übersiedelten die Eltern mit ihr und ihrem kleinen Bruder Paul wieder zurück nach Wien. Seit bald 20 Jahren lebt die Autorin inzwischen in Berlin und hat mit ihrer erfolgreich verfilmten dokumentarischen Erzählung Aimée & Jaguar auch international großes Ansehen erworben. In ihrem neuen Buch geht es nun gewissermaßen ans Eingemachte.
Der Selbstmord ihres Bruders kurz nach dem Tod der Mutter ist Anlass, nach Wien zurückzukehren. Bei der Auflösung der alten Wohnung, in der sie selbst aufgewachsen ist, kommen ihr die Erinnerungen an das Leben in dieser Familie, in der beide Eltern links waren. Ihr Vater hatte seine Frau rücksichtslos in »seine« Stadt zurückgeholt und war selber wieder in den öffentlichen Dienst eingetreten, aus dem er als Sozialist verdrängt worden war. Seine Frau, die Mutter der Autorin, deren Eltern und viele Verwandte in den Konzentrationslagern ermordet worden waren, hatte er zur Hausfrau degradiert – zu der sie nicht taugte. Den Sohn haben beide auf dem Gewissen: der Vater mit schlagender Strenge, die Mutter mit einer von ihr eingeforderten Zwangssymbiose.
Die Erinnerungen an dieses Familienleben sind nur eine Zeitebene, von der aus die Autorin weiter zurückblickt in die Geschichte ihrer Familie. Auch was sie vom Hörensagen weiß, erzählt sie dem Leser. Ihre Mutter aus gutbürgerlichem jüdischen Haus in Warschau floh Mitte der 30er-Jahre vor dem polnischen Antisemitismus nach Wien, rettete kurz vor dem »Anschluss« ihren sozialistischen Mann vor den gegen links wütenden Austrofaschisten, betrieb nach dem Einmarsch der Deutschen ihre Auswanderung nach England und zwang ihren Mann, mit ihr zu gehen – er wäre sonst umgebracht worden.
Auf allen drei Erzählebenen entstehen aus der Feder der Autorin Skizzen des jeweiligen Zeitgeistes: der muffigen Wiener Nachkriegsgesellschaft, der ausklingenden Links-Boheme der Vorkriegszeit oder der psychischen Befindlichkeit der Zurückgekehrten, der Überlebenden, die auch in der nächsten Generation nicht mit dem Leben zurechtkommen.
Zwei verstörende Passagen des Buches verweisen auf Spätfolgen der Schoa: Auf einer kleinen Trauerfeier im Familien- und Freundeskreis in Wien gibt die Autorin schonungslos ihr zerrüttetes Verhältnis zu ihrer Mutter, zu ihrem lebensuntüchtigen Bruder und zu ihrem ehebrechenden, längst verstorbenen Vater zum Besten. Der Leser weiß nicht, ob alle Anwesenden das so genau wissen wollten, aber die Autorin musste es auf jener Feier sagen und auch in ihrem Buch wiederholen.
Noch befremdlicher sind die intimen Bekenntnisse der Autorin, wie sie sich per Internet Sex verschaffte, hemmungslos, mit jedem, der wollte. Dazu ihr Bekenntnis, nicht lieben zu können, in jungen Jahren während eines Besuchs in Polen vergewaltigt worden zu sein, vor Jahrzehnten ein Kind von ihrem geschiedenen Mann abgetrieben zu haben. So ungeschützt intim wird die Autorin ohne Not, mag es scheinen. Und doch muss sie wohl eine zwar andere, aber ebenso große Not wie ihr trostloser Bruder gehabt haben. Mit dieser entwaffnenden Offenheit erreicht Erica Fischer, dass der Leser über die Spätfolgen von Geschichte auf den Einzelnen nachdenkt.
erica fischer: himmelstraße. geschichte einer familie.
Rowohlt, Berlin 2007, 250 S., 19,90 €