1968 war ich fünfzehn Jahre alt. Ich hatte bis dahin relativ sorglos in Warschau gelebt. Doch die politische Atmosphäre um mich herum veränderte sich dramatisch in diesem Jahr und ich machte zum ersten Mal die Erfahrung, wie trügerisch das Gefühl der Zugehörigkeit sein kann. In den Medien war plötzlich die Rede von »Zionisten« als dem Übel, an dem Wirtschaft und Politik Polens krankten. Bei der Inszenierung dieser antisemitischen Kampagne spielte der Sechstagekrieg 1967 eine große Rolle. Der Konflikt im Nahen Osten wurde nach Polen getragen. Tausende Menschen wurden nach ihrer Haltung gegenüber Israel befragt, ihr polnischer Patriotismus infrage gestellt. Auch mein Vater musste sich einer solchen Prozedur unterziehen und erhielt eine Parteiverwarnung.
Auslöser der Kampagne waren Studen- tenproteste gewesen, die im März 1968 ausbrachen. In der Parteipresse wurden ihre Anführer als »Zionisten«, sprich Juden, gebrandmarkt. Ich war dabei, als Studenten vor der Technischen Hochschule brutal niedergeknüppelt wurden. Eine weinende Frau redete auf einen Milizionär ein und fragte ihn, warum die armen Studenten denn geschlagen würden, wenn an allem die Juden schuld seien? In diesem Moment habe ich meine patriotische Unschuld verloren. Mit einem Mal stand ich auf der anderen Seite.
Meine Eltern wurden immer nervöser und angespannter. Zu Hause sprach man nicht mehr über Wichtiges, aus Angst, abgehört zu werden. Meine Mutter schaltete die Nachrichtensendungen ab, weil sie die antisemitischen Äußerungen nicht ertragen konnte. Als die Drohungen gegenüber Juden immer drastischer wurden und mein Vater seine Arbeit als Journalist verlor, sahen meine Eltern keinen anderen Ausweg mehr, als die Koffer zu packen und das Land zu verlassen. Parteichef Gomulka hatte in einer Rede im August 1968 erklärt, dass alle, die sich nicht als Polen fühlten und sich dem Staat gegenüber nicht loyal verhielten, ausreisen sollten. Am 22. Dezember fuhren wir vom Danziger Bahnhof in Warschau ab, mit Dokumenten für die Ausreise nach Israel. Auf die polnische Staatsangehörigkeit hatten wir verzichten müssen, wie alle die fast 15.000 Juden, die Polen zwischen 1968 und 1971 verließen. 40 Jahre danach bin ich mit einem Kamerateam nach Warschau zurückgekehrt, auf den Spuren des Traumas von damals. Doch eine Heimkehr war es nicht. Zu Hause habe ich mich erst wieder gefühlt, als ich zurück in Köln war, wo ich heute lebe. Mein Polen habe ich 1968 verloren. Ob ich es je wiederfinde?
»Vertreibung 1968 – Das Schicksal der polnischen Juden«. 3sat, Montag, 15. September, 20.15 Uhr