von Sabine Brandes
Sie sind alte Bekannte. Arie Diari und der Verkäufer hinter der Glasscheibe. Denn seit zehn Jahren vergeht kaum ein Tag, an dem der Mann mit der gehäkelten Kippa auf dem Hinterkopf nicht vorbeikommt und ein freundliches »Schalom« durchs Fenster ruft. Es ist immer dasselbe Ritual: Erst ein kleines Schwätzchen über die politische Lage, das Wetter, die Familie, dann werden der Zettel ausgefüllt und die Kreuzchen gemacht. Diari ist Lottospieler. Wie schätzungsweise 60 bis 70 Prozent aller Israelis. Tendenz steigend.
Kurz vor Rosch Haschana mußte Diari eine halbe Stunde in der Schlange stehen, und dann hatte sein Verkäufer noch nicht einmal Zeit für ein kurzes »Schana Towa«. Grund war »Lottomania«. Der Jackpot war randvoll. Zwar kam er nicht an die deutsche Riesensumme heran, doch immerhin warteten 25 Millionen Schekel (umgerechnet 4,5 Millionen Euro) auf einen Gewinner. Und jeder wollte dieser Glückliche sein: Die nationale Lotterie Mifal Hapais gab an, daß die Lottoscheinverkäufe in nur drei Stunden 1,2 Millionen Euro in die Kassen brachten. Der Höhepunkt wurde zwischen acht und neun Uhr abends erreicht: In einer einzigen Stunde gingen fast eine halbe Million Euro über die Lottoladentheken. Offiziellen Angaben zufolge waren die Verkäufe im September die höchsten, die seit Bestehen der Lotterie erzielt wurden.
Trotz der hohen Einbußen im Juli durch den Krieg gegen die Hisbollah im Libanon zeigte das dritte Quartal einen Anstieg von 40 Prozent. Auf das laufende Jahr berechnet verzeichnete Mifal Hapais eine Steigerung von neun Prozent. »Die Israelis sind einfach total lottoverrückt«, ist David Ben-Schani sicher. Der Unternehmensberater füllt selbst seit 30 Jahren regelmäßig Scheine aus, gewonnen hat er schon einige Male, doch das wirklich große Los sei nicht dabei gewesen. »Jeder träumt davon, sich eines Tages all seine Träume erfüllen zu können. Das ist doch nur menschlich.« Allerdings sieht Ben-Schani in der Tendenz, daß immer mehr Leute auf Lotto setzen, auch ein Problem des Landes: »Viele Leute in unserer Gesellschaft können kaum mehr von ihren Gehältern leben, obwohl sie jeden Tag arbeiten gehen. Es ist für alles zu knapp, und oft erscheint ein Lotteriegewinn als der einzige Ausweg aus der Misere.«
Dem kann Diari nur beipflichten. »Ich komme über die Runden, mehr aber auch nicht«, gibt er zu. Als Pensionär nach 40 Jahren im Sicherheitsdienst kann sich der 65jährige kaum mal etwas außerhalb der Reihe leisten. Doch genau das würde er gern. Und dies ist auch der Grund, weshalb er täglich einen Schein ausfüllt. Wovon er träumt? »Eine lange Reise mit meiner Frau durch ganz Europa.« Nach einem Gewinn von etwas weniger als 2.000 Euro war vor einem halben Jahr immerhin ein langes Wochenende in der Türkei drin.
Für einen Tip auf dem Spielschein muß Diari 5,40 Schekel (etwa 1 Euro) ausgeben. Zweimal pro Woche, immer dienstags und samstags sitzt er dann abends vor dem Fernseher, und verfolgt gespannt die Ziehung.
Mifal Hapais vertreibt sieben verschiedene Spiele. Neben dem Flagschiff Lotto sind das andere Zahlen- und Kartenspiele sowie die Rubbellose »Hisch-Gad«, die sich großer Beliebtheit erfreuen, da die Gewinne sofort an Ort und Stelle ausgezahlt werden. Einmal im Jahr gibt es zudem die »Große Lotterie« mit einem Hauptgewinn von fast zehn Millionen Euro.
Die blau-orangefarbenen Lotteriebuden sind in allen Teilen des Landes zu finden. Von Nord nach Süd stehen sie meist an Hauptstraßen oder in den Stadtzentren. So könnte Diari an jedem beliebigen Ort seine Kreuzchen machen. Im selben Städtchen, etwa hundert Meter Luftlinie entfernt, befindet sich eine imposante Sporthalle, erst vor einigen Jahren nach neuesten Standards gebaut. Sie bietet alles, was das Sportlerherz begehrt. Finanziert wurde sie von Mifal Hapais. Wie zahlreiche Schulen, Bibliotheken, Altenvereine und Kulturzentren von Naharija bis Eilat.
Das Motto der 1951 gegründeten Lotterie lautet »Jeder gewinnt«. Und da ist was dran, denn hundert Prozent der Gewinne gehen an die Gemeinschaft zurück – bis heute sind das insgesamt umgerechnet 4,2 Milliarden Euro. Entweder werden sie als Gewinne an die Spieler ausgezahlt oder fließen in eine Vielzahl der gemeinnützigen Projekte der Lotterie auf den Gebieten Bildung, Gesundheit und Kultur, im Sport sowie zum Schutz der Umwelt. Der Vorsitzende Shimon Katznelson erklärt, daß er Mifal Hapais als ein breitgefächertes Gemeinschaftsunternehmen sieht, das dabei hilft, die Unterschiede zwischen den stärkeren und schwächeren Teilen der israelischen Bevölkerung auszumerzen.
Die Idee, eine nationale Lotterie ins Leben zu rufen, stammt vom einstigen Bürgermeister Tel Avivs, Israel Rokach, der vor mehr als fünfzig Jahren dringend Gelder für ein neues Krankenhaus brauchte. In der ersten Zeit flossen alle Gewinne in die medizinische Versorgung der Bevölkerung, doch 1954 beschloß man, vor allem die Bildung im Land zu unterstützen, in den 90er Jahren kam die Sportförderung dazu. Zudem vergibt Mifal Hapais Stipendien und Auszeichnungen für hervorragende Leistungen in den Bereichen Wissenschaft, Literatur und Kunst.
Arie Diari ist nicht richtig traurig, wenn er wieder mal eine Niete gezogen hat. »Ich glaube schon, daß ich irgendwann mal richtig gewinnen werde und mit meiner Frau die Koffer packen kann. Aber wenn nicht, ist es auch in Ordnung. Denn ich weiß, daß ich mit jedem Los etwas Gutes für Israel tue. Das kommt ja auch meinen Kindern und Enkelkindern zugute.«