Bei Kilometer 21 bekommt Ron Segal noch einmal die zweite Luft. Stolz reckt er seinen Arm mit einem blauen Band in die Höhe, schaut nach rechts und freut sich. Ron Segal, der 29-jährige Filmemacher aus Ness Ziona weiß – er hat schon jetzt beim Berlin-Marathon gewonnen. Dabei liegen immer noch mehr als 20 Kilometer vor ihm. »Aber von da an ging es schneller und leichter«, sagt Segal gut zwei Stunden später im Ziel am Brandenburger Tor. Nach 21 Kilometern also, als Segal in der prallen Mittagssonne am Innsbrucker Platz vorbeiläuft und nach rechts schaut, sieht er Folgendes: israelische Fahnen und viele Leute, die er kennt. Und andere, die er nicht kennt. Sie alle winken ihm aufgeregt zu und feuern ihn lautstark an. Es wird an diesem Platz im Bezirk Tempelhof-Schöneberg aber eigentlich immer merklich lauter, wenn ein Läufer mit einem blauen Band um das Handgelenk vorbeirennt. Die Fangruppe ist wiederum auch ganz einfach auszumachen. Sie hat sich weiße T-Shirts übergezogen. In blauer Schrift ist vorne »Gilad is still alive« aufgedruckt und eine Silhouette von Gilad Schalits Konterfei ebenso. Hinter den Fans flattern zwei große Sonnensegel mit derselben Aufschrift im spätsommerlichen Wind. Dazwischen ist ein Infostand platziert, an dem sich die Interessierten über Gilad Schalit informieren können. Manche ziehen sich ein blaues Armband an. Andere nehmen eines dieser T-Shirts, streifen es über und gehen weiter. Manche bleiben stehen, gesellen sich zu den Fans und feuern an.
Dafür ist Ron Segal gelaufen. Dafür hat er seit Monaten so hart trainiert, dass er die 42,195 Kilometer lange Strecke für sich, aber auch für Gilad Schalit durchstehen kann. Mit seinem Start am Berlin-Marathon wollte Ron Segal nämlich auf Schalit aufmerksam machen. Am Tag des Berlin-Marathons, am 20. September, waren es genau 1.183 Tage, die der israelische Soldat in Gefangenschaft der Hamas sitzt. Am frühen Morgen des 25. Juni 2006 wurde der heute 22-jährige Grenzsoldat mit seiner Panzerbrigade südlich des Gasastreifens auf israelischem Gebiet zunächst überfallen und dann verschleppt.
Ziel 1.183 Tage in Gefangenschaft sind eine lange Zeit. »Ich laufe gegen das Vergessen«, sagte Ron Segal ganz kurz vor dem Start in Berlin am vergangenen Sonntag. Und mit ihm ganz viele. Ron Segal hat sein Ziel erreicht. Mehr als 40.000 Menschen gingen beim Berlin-Marathon an den Start. Mindestens 1.183 Läuferinnen und Läufer sollten sich dem Solidaritätslauf für Gilad Shalit anschließen. Auf der Marathonmesse, die in den drei Tagen vor dem Marathons stattfand postierten Segal und seine Unterstützer erstmalig ihren In-
fostand. Hier konnten sich die Läufer informieren und in eine Liste eintragen, wenn sie für Shalit ein läuferisches Zeichen setzen wollten. Als Symbol dafür erhielten sie ein blaues Handgelenkband mit der Nummer 1.183 und der Internetadresse » www.run4me.com «. Das Interesse an der Aktion war riesengroß. Wenn auch so mancher unsicher war. »Viele liefen mit dem blauen Band, wollten sich aber mit ihren Namen und Adresse nicht offiziell registrieren«, hatte einer der Standbetreuer, Richard Gabryys, beobachtet.
Segals Berliner »Laufgruppe« vereinte schließlich beim Start am frühen Sonntagmorgen Sportler aus mehr als 20 Nationen und den unterschiedlichsten Religionsgemeinschaften. Und es waren deutlich mehr als 1.183. »Auch Moslems waren dabei«, betont der Initiator Segal stolz. Einen Er-
folg hatte Segal schon kurz vor dem Startschuss erzielt. Er durfte die Zahl 1.183 als Startnummer über seinem Laufshirt tragen, obwohl die eigentlich an einen norwegischen Läufer vergeben war. So gab es beim diesjährigen Hauptstadt-Marathon gleich zweimal die Nummer 1.183. Das Organisationskomitee des Berlin-Marathons hatte einfach mal ein Auge zugedrückt.
Unterstützung »Wir verstehen das hier als ein humanitäre Aktion«, erklärte Anat Sultan-Dadon, die Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der Botschaft von Israel in Berlin, den Neugierigen am Aktionsstand. Seit 9 Uhr steht sie hier. Mal am Stand, mal feuert sie die Läufer an. Auch der Bürgermeister des Bezirks Tempelhof-Schöneberg, Ekkehard Band, machte sich am vergangenen Sonntag zum Innsbrucker Platz auf. Die Geisel Gilad Shalit stammt nämlich aus Naharija, der Partnerstadt des Berliner Bezirks. »Es geht hier um einen Sohn unserer Partnerstadt und da ist Engagement ebenso wichtig wie selbstverständlich«, sagt Ekkehard Band. Er hatte Ron Segal in seiner Aktion von Anfang an unterstützt und »geholfen, wo es mir möglich war«, wie er anmerkt. Dass es diesen Infostand am Innsbrucker Platz gibt, vor allem, dass er so schnell und unbürokratisch aufgestellt werden konnte, hat auch viel mit Ekkehard Band zu tun.
Ron Segal kommt mit einer Zeit von 4 Stunden und 35 Minuten ins Ziel am Brandenburger Tor. Es war sein erster Marathon, und Segal war sehr glücklich und zufrieden. Vor allem mit seiner Aktion, in der er und seine Helfer insgesamt 3.000 blaue Bänder an Läufer und Zuschauer gleichermaßen verteilen konnten. Segals Marathon-Aktion für den verschleppten Gilad Shalit brachte es am selben Abend bis in die Hauptnachrichten im israelischen Fernsehen. Und kurz danach, am späten Abend, erhielt Segal einen Anruf aus Is-
rael. Es war Noam Schalit, Gilads Vater, der sich bei allen Läufern mit einem blauen Band für ihren Einsatz ganz herzlich bedankte. Er sagte, dass es seiner Familie viel Mut macht