von Melanie Suchy
Das älteste jüdische Waisenhaus Deutschlands steht in Fürth. 1763 hatte Israel Lichtenstädter es nach Prager und Amsterdamer Beispiel gestiftet, zunächst für Jungen ohne Eltern oder Vater, die hier eine ordentliche religiöse Erziehung bekommen sollten. Ab 1885 nahm das Haus auch Mädchen auf. Der helle Backsteinbau ist heute im Besitz der jüdischen Gemeinde.
Seit 1929 leitete Isaak Hallemann mit seiner Frau das Haus in der damaligen Julienstraße, die heute seinen Namen trägt. 1937 wollte er das Waisenhaus samt seinen Bewohnern vor den Nazis nach Palästina retten. Doch das Kuratorium der Einrichtung untersagte die Auswanderung, weil in den Statuten des Hauses stand, dass es »auf ewige Zeiten in Fürth« verbleiben müsse. 1942 wurde die Einrichtung von den Nazis zwangsaufgelöst, Hallemann, seine Frau, zwei Töchter und 31 seiner Waisen wurden in die Vernichtungslager deportiert und ermordet.
Jutta Czurda hörte vor einigen Jahren von der Geschichte. Die Choreografin und Sängerin ließ sich davon für ein Tanzprojekt inspirieren, um den ermordeten Kindern »symbolisch 65 Jahre später ein Zuhause zu geben«. Das Ergebnis ist Mayim, Mayim, ein Lied ohne Worte aus Tanz und Musik, vorgetragen von 33 Tänzerinnen und Tänzern aus aller Welt, das an diesem Donnerstag Uraufführung hat. Kern des Konzepts ist, auf der Bühne die 33 Kinder als Individuen sichtbar zu machen. 33 namhafte Choreografen, unter anderem aus den USA, Israel, Indien, Senegal und Deutschland, haben je ein dreiminütiges Tanzsolo mit ausgesuchten jungen Tänzern einstudiert. Auch ihnen gilt die Hommage, sagt einer der beteiligten Impresarios, der Londoner Hofesh Shechter, »ihren Ideen, Gefühlen und Fähigkeiten«.
Jeder Tänzer und jede Tänzerin bekommt Raum für ein Solo, unterlegt mit Musik von Gregor Hübner, gespielt von seinem Ensemble aus Instrumentalisten und einer Sängerin. Jutta Czurda hat die 33 Einzelteile behutsam zu einem Ganzen gefügt. »Immer Kontakt behalten, sich nie als allein begreifen!«, weist sie bei der Probe an. Bei den einzelnen Tänzen sind deshalb stets alle Darsteller auf der Bühne, die im Übrigen bis auf ein paar Holzkisten und -türen komplett leer ist, unverstellt.
»Etwas Abwesendes ist immer anwesend, das ist der Kern des Abends«, beschreibt Dramaturg Thomas Reher das Besondere an Mayim, Mayim. In einigen der Kurzchoreografien steckt schon diese Spannung zwischen hier und dort, zwischen Für-Sich und Für-Andere. Immer wieder sieht man bei den Sequenzen im zeitgenössischen Tanzstil, wie die Darsteller sich in die Weite und Höhe strecken und locker in sich zusammenfallen, auf dem Boden liegen oder hocken, sich auf halber Höhe fortbewegen, den Wechsel von klaren geraden Linien und krumpeligen Kurven drehen, schillernd zwischen Entschiedenheit und Suchbewegung. Keiner der Tänze stellt im theatralischen Sinne etwas Bestimmtes dar. Aber mit dem Wissen um »das Abwesende«, um den Tod, sieht man den Bewegungen doch etwas an vom Spiel, übermütig, verträumt, energisch, von Taumeln, von Traurigkeit, Jubel und Weisheit der Kinder auf ihrem Weg durch ein nie verwirklichtes Erwachsenenleben hindurch.
»Mayim ›Mayim« – Miniaturen des Erinnerns«, Stadttheater Fürth
www.stadttheater.de