Nach sechs Wochen Krieg scheint es in den mühsamen Verhandlungen zur Befreiung der Geiseln im Gazastreifen Fortschritte zu geben. Medienberichten aus den USA und Israel zufolge könnte es bald eine Einigung auf eine fünftägige Feuerpause, mehr humanitäre Hilfe für die notleidende Zivilbevölkerung und eine Freilassung Dutzender Geiseln geben. Dem israelischen Fernsehsender N12 zufolge signalisierte die islamistische Terrororganisation Hamas grundsätzlich Bereitschaft zur Freilassung von 87 Geiseln, darunter 53 Frauen, Kinder und Jugendliche sowie 34 Ausländer. Insgesamt hatten Terroristen der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober rund 240 Geiseln aus Israel in den Gazastreifen verschleppt.
Die »Washington Post« berichtete, die mögliche Vereinbarung mit der Hamas sei unter der Vermittlung Katars in den vergangenen Wochen in Doha verhandelt worden. Vertreter Israels und der USA seien dabei von katarischen Vermittlern repräsentiert worden, hieß es am Samstag weiter unter Berufung auf mit den Gesprächen vertraute Personen.
Der »Washington Post« zufolge könnte die Freilassung der Geiseln bereits in den nächsten Tagen beginnen, sofern es keine Probleme in letzter Minute gebe. Die Einstellung der Kampfhandlungen soll demnach auch ermöglichen, dass deutlich mehr humanitäre Hilfe, einschließlich Treibstoff, von Ägypten in den Gazastreifen gelangen kann.
Von offizieller Seite gab es zunächst aber keine Bestätigung eines möglichen Abkommens. Die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson, schrieb auf der Plattform X, vormals Twitter: »Wir haben noch keine Einigung erzielt, aber wir arbeiten weiter hart daran«. Am Samstag betonte auch der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu, es gebe aktuell »keinen Deal«. In Bezug auf die Geiseln gebe es viele unbestätigte Gerüchte und falsche Berichte, betonte er. Sobald es in der Sache etwas zu berichten gebe, werde die Regierung das auch tun, versprach er.
Dem Fernsehsender N12 zufolge müsste sich Israel im Gegenzug für eine Freilassung der Geiseln zu fünf Tagen Kampfpause im Gazastreifen sowie zur Freilassung von weiblichen palästinensischen Häftlingen, Minderjährigen in israelischen Gefängnissen und sogenannten Sicherheitshäftlingen verpflichten. Um wie viele Häftlinge es dabei ging, blieb zunächst unklar. Außerdem verlange die Hamas die Einfuhr von mehr Treibstoff in den abgeriegelten Küstenstreifen.
Der Sender berichtete gleichzeitig, es sei noch unklar, ob der Deal vorangehen werde. Ein Problem sei, dass es zuletzt kaum noch Kontakt mit dem Hamas-Chef im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar, gegeben habe. Er habe noch keine klare abschließende Antwort über die Vermittler in Katar übermittelt, hieß es. Israel geht davon aus, dass al-Sinwar sich seit Beginn des Kriegs am 7. Oktober in unterirdischen Verstecken aufhält. Zuletzt wurde er in seinem Geburtsort Chan Junis im Süden des Küstenstreifens vermutet. Die Kommunikation erfolgt dem TV-Sender zufolge über mehrere Vermittler.
Die Geiseln waren nach dem Massaker der Hamas in Israel mit 1200 Toten in den Gazastreifen verschleppt worden - die meisten wurden von der Hamas entführt. Daraufhin begann Israel massive Luftangriffe und Ende Oktober eine Bodenoffensive im Gazastreifen. Dabei wurden nach palästinensischen Angaben bislang mehr als 12 300 Menschen getötet. Die Versorgungslage ist nach UN-Angaben katastrophal. Israel steht international wegen seiner Kriegsführung zunehmend unter Druck.
WHO plant Rettung verbliebener Patienten in Schifa-Klinik
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) arbeitet unterdessen mit Hochdruck an einem Plan zur Rettung der verbliebenen Patientinnen und Patienten aus dem Schifa-Krankenhaus im Gazastreifen. Das schrieb WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in der Nacht zum Sonntag bei X. Mitarbeiter hätten das Krankenhaus am Samstag aufgesucht und eine desolate Lage vorgefunden. Es gebe dort kein Wasser, keinen Strom und keine Nahrungsmittel mehr und kaum noch medizinischen Bedarf.
Das Team habe am Eingang des Krankenhauses ein Massengrab vorgefunden und sei informiert worden, dass dort mehr als 80 Menschen begraben seien, schrieb die WHO in einer Mitteilung am Sonntag.
»Angesichts dieser erbärmlichen Situation und des Zustands vieler Patienten, darunter Babys, bat das Personal um Unterstützung bei der Evakuierung von todkranken Patienten, die dort nicht mehr versorgt werden können«, so der WHO-Chef. Man arbeite mit Partnern daran und verlange Unterstützung für diesen Plan. Tedros nannte weder Israel, dessen Militär das Krankenhaus eingenommen hat, noch die im Gazastreifen regierende Hamas beim Namen. »Die derzeitige Situation ist unerträglich und nicht zu rechtfertigen«, schrieb er. »Feuerpause. JETZT«, fügte er hinzu.
Der WHO zufolge flohen am Samstag rund 2500 Binnenflüchtlinge, die in dem Krankenhauskomplex Schutz gesucht hatten, sowie Mitarbeiter und mobile Patienten nach einem Evakuierungsaufruf des israelischen Militärs in den Süden des Gazastreifens. Nun befänden sich in der Klinik noch etwa 25 Mitarbeiter und 291 Patienten, darunter 32 Babys in »extrem kritischem Zustand«.
Biden spricht sich für Zwei-Staaten-Lösung aus
US-Präsident Joe Biden sprach sich erneut für die sogenannte Zwei-Staaten-Lösung im Nahost-Konflikt aus und skizzierte, wie er sich die Zeit nach Ende des Gaza-Kriegs vorstellt. Dabei brachte er in einem am Samstag veröffentlichten Meinungsbeitrag in der »Washington Post« auch Sanktionen gegen extremistische Siedler im Westjordanland ins Spiel. Der Demokrat kritisierte abermals »die extremistische Gewalt gegen Palästinenser im Westjordanland«.
Biden zeichnete in dem langen Beitrag auf, wie die Zukunft in der Region seiner Auffassung nach aussehen soll - und wie der Weg dorthin gestaltet werden soll. »Soviel ist klar: Eine Zwei-Staaten-Lösung ist der einzige Weg, um die langfristige Sicherheit sowohl des israelischen als auch des palästinensischen Volkes zu gewährleisten«, schrieb Biden. »Auch wenn es im Moment den Anschein hat, als sei diese Zukunft nie weiter entfernt gewesen, ist sie durch die Krise dringender denn je geworden.«
Abbas fordert sofortiges Ende des Gaza-Kriegs
Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas rief am Samstagabend zu einem sofortigen Ende des Kriegs im Gazastreifen auf. In einer Fernsehansprache forderte er US-Präsident Biden dazu auf, »zu intervenieren und diese Aggression sofort zu stoppen«. Abbas fragte: »Worauf warten die USA angesichts des fortwährenden Völkermords an unserem Volk in Gaza?« Abbas forderte Biden außerdem dazu auf, sich für die Einfuhr von mehr humanitärer Hilfe einzusetzen.
Demonstration in Tel Aviv gegen Gaza-Krieg
Mehrere Hundert Menschen demonstrierten am Samstagabend in Tel Aviv gegen den Gaza-Krieg. Die Demonstration auf der Strandpromenade fand auf Initiative der linksorientierten Chadasch-Partei statt, wie israelische Medien berichteten. Jüdische und arabische Israelis protestierten dabei gemeinsam gegen eine Fortsetzung des Militäreinsatzes im Gazastreifen. »Auge um Auge und wir sind alle blind«, stand auf einem der Schilder. Der TV-Sender Kan berichtete, die Demonstranten hätten dazu aufgerufen, »die schlechteste Regierung in der Geschichte Israels« abzulösen. dpa/ja