Pro & Contra

Muss sich die Diaspora einmischen?

Der Oberste Gerichtshof in Israel Foto: Flash 90

PRO – Der Judaist Alfred Bodenheimer sagt: »Ja, denn die Demokratie des jüdischen Staates ist bedroht.«

Was in Deutschland mit seinem Zweikammerparlament und Verfassungsgericht gar nicht denkbar ist, war seit jeher Israels Realität: Die Einhaltung der Grundrechte ist dort ausschließlich durch das Oberste Gericht gesichert. Diese Instanz steht als einzige Mauer zwischen der vollständigen Willkür einer von der Koalition im Einkammerparlament Knesset getragenen Regierung und der Bevölkerung.

Würde die herrschende Koalition die Wahlen auf unbestimmte Zeit verschieben wollen, die Pressefreiheit aufheben oder das Demonstrationsrecht beschneiden, so ist es einzig das Oberste Gericht, das dem verbindlich widersprechen und damit die Rechte der Bürgerinnen und Bürger wahren kann. Noch.

Denn genau das will die herrschende Koalition in Israel aufheben. Mit einfacher Mehrheit von 61 Stimmen sollen Entscheide des Obersten Gerichts mit weniger als 80 Prozent Mehrheit sämtlicher Richter übergangen werden können. Damit steht, mit dem faktischen Ende der Gewaltenteilung, das Ende der Demokratie in Israel bevor, nichts weniger. Dass künftige Ernennungen in das Gericht von einer neu nach politischen Kriterien geordneten Kommission vorgenommen werden und dieses damit politisch auf Linie gebracht werden soll, setzt dem Plan die Krone auf.

delinquent Die Unschuld hinter dem Begriff »Reformen«, den die Regierung hier benutzt, verschwindet sofort, wenn man sich die ersten Projekte der Regierung anschaut. Gegen die Teuerung unternimmt sie nichts, sicherheitspolitisch bleibt es nach Anschlägen und Beschuss aus Gaza bei populistischen Strafmaßnahmen mit Eskalationspotenzial. Dafür soll beispielsweise das Streikrecht in gewissen Sektoren eingeschränkt werden, und das eiserne Einstehen für die Rückkehr des gerichtlich abgesetzten Ministers und mehrfachen Delinquenten Arie Deri und seine Wiedereinsetzung entgegen dem deutlichen Entscheid des Obersten Gerichts ist zur Hauptsorge dieser Regierung geworden.

»Es ist jüdische Pflicht wie auch jüdischer Selbstschutz, hier die Stimme zu erheben.«

Alfred Bodenheimer

Der israelische Wirtschaftsnobelpreisträger und Bestsellerautor Daniel Kahneman hat erklärt, diese Reformen würden das Ende Israels, wie wir es kennen, bedeuten. Man könnte auch sagen: das Ende des Zionismus überhaupt. Denn weit mehr als das Territorium eines Staates selbst sah er diesen immer in erster Linie als Grundlage für Jüdinnen und Juden, unbehelligt und frei zu leben. Doch wie frei wäre das Leben, für jüdische wie für alle anderen Menschen, in einem Staat, in dem die Menschenrechte nicht mehr geschützt sind, in dem die Regierung willkürlich und in bewusster Ausschaltung der Gewaltenteilung über Wohl und Wehe der Bürger entscheidet?

Gegen die Absichten der Regierung ist in Israel ein Widerstand erwachsen, dessen Wucht diese überraschen muss. Er macht vor Grenzen der politischen und religiösen Weltanschauung nicht halt, ausnahmslos alle Universitätsrektoren, praktisch alle bedeutenden Wirtschaftsexperten und -expertinnen und Rechtsgelehrten des Landes, die Chefs und Mitarbeitenden der Hightech-Industrie, Zehntausende Demonstrierende wöchentlich und noch weit größere Mengen von Leuten in den sozialen Medien stehen dagegen auf. Sie fühlen buchstäblich, wie ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen werden soll.

Rückversicherung Dies darf die jüdische Diaspora nicht schweigend übergehen. Wenn sich Israel als Stimme der Jüdinnen und Juden in aller Welt versteht, so müssen diese ihre Stimme auch in Israel vernehmen lassen. Denn dieses droht bald nicht mehr die berühmte Rückversicherung zu sein, der man sich im Falle wachsenden Antisemitismus, von Diskriminierung und Verfolgung anvertrauen, in die man flüchten könnte, ohne Angst, sich dort anderen Formen von Repression ausgesetzt zu sehen.

Es ist deshalb sowohl jüdische Pflicht als auch jüdischer Selbstschutz, hier die Stimme zu erheben. Judentum ist auch in der Diaspora nicht einfach ein Spleen, den man in den eigenen vier Wänden oder allenfalls der eigenen Gemeinde pflegt, es ist Anteil an einer Schicksals- und Solidargemeinschaft. Und diese Solidarität brauchen Israelis nicht nur, wenn sie von außen bedroht werden, sondern auch, wenn der zionistische Traum von der eigenen Regierung demontiert zu werden droht. Wenn der israelische Premier jüngst laut von einer rasch anwachsenden Alija geträumt hat, so würde immerhin der Satz: »Keiner von uns käme unter diesen Bedingungen« eine klare Aussage bedeuten, ein kleiner, aber wichtiger Baustein im Gesamtgefüge des jüdischen Protests für Menschenrechte, der in seiner Gesamtheit Wirkung zeigen könnte.

Nichts daran wäre Anbiederung an die »Israelkritiker« im Ausland. Es geht, auch argumentativ, nicht um die Diskreditierung Israels, sondern im Gegenteil um seine Erhaltung. Es geht um einen Kampf um unser Land, um uns selbst. Und die Zeit drängt.

Alfred Bodenheimer ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel. Er lebt in der Schweiz und Israel.



CONTRA – Der Historiker Michael Wolffsohn findet: »Nein. Wer etwas ändern will, sollte einwandern und wählen.«

Die Emanzipation der jüdischen Diaspora vom jüdischen Staat war seit Jahrzehnten vorhersehbar. Ich habe sie erstmals in meinem Israel-Buch 1982 und in allen aktualisierten Auflagen vorhergesagt. Ebenso vorhersehbar war die Emanzipation Israels von der jüdischen Diaspora.

Nicht erst seit Dezember 2022, also »Bibi« in der sechsten Auflage, diesmal mit Ben-Gvir, anderen Falken und Theokraten. Seit Bibis neuer Koalition jagt ein dringender diasporajüdischer Appell den anderen. O-Ton: Endlich müssten »auch wir Diasporajuden zum Kampf für die Demokratie in Israel aufrufen«. Noch einer der vielen Posaunenstöße: »Während die israelische Demokratie um ihr Leben kämpft … beschäftigt sich Deutschland, mal wieder, erst mal mit sich selbst.«

Freier WILLE Soweit ich weiß, sind wir 200.000 Juden unter den anderen circa 83 Millionen Deutschen nicht »Deutschland«. Empörung ist kein Faktenersatz. Ohne Schaum vor dem Mund meint Alfred Bodenheimer, ein besonnener und kluger Kopf, dass es jüdische Pflicht wie auch jüdischer Selbstschutz sei, hier die Stimme zu erheben. Ich stimme ihm zu und widerspreche doch. Ja, natürlich, wir können unsere Stimme erheben. Das ist unser elementares Recht als freie Menschen.

Wir müssen aber nicht. Eine »jüdische Pflicht« gibt und ist es schon gar nicht. Was soll »jüdische Pflicht« sein? Wer bestimmt das Wie und Was? Der allgemeine Wille. Doch der ist seit den Zeiten von dessen Erfinder Jean-Jacques Rousseau die Tarnung individueller oder kollektiver Partikularinteressen, die vorgibt, den Willen der Allgemeinheit zu vertreten. Sehr wohl gibt es, ebenfalls in Anlehnung an Rousseau, den »Willen aller« im Sinne des Mehrheitswillens. Dessen Konkretisierung sind Wahlen.

Bezogen auf die Gesamtheit der Diasporajuden gibt es diese nicht, sehr wohl aber in Israel, bezogen auf die Gesamtheit der Israelis, besonders der jüdischen. Ob es uns gefällt oder nicht: Wenn wir zur Demokratie A sagen, müssen wir auch deren Ergebnis, also B, akzeptieren und tolerieren.

Koalition Ich gestehe: Auch mir gefiel keine der früheren Netanjahu-Koalitionen. Die neue noch viel weniger. Doch als Demokrat habe ich jeden Mehrheitswillen zu akzeptieren. In Israel ebenso wie woanders. Dass wir Diasporajuden »zum Kampf für die Demokratie in Israel« aufrufen, ist eine durch und durch antidemokratische Anmaßung. Nebenbei bewerte ich die innerisraelischen Demonstrationen gegen Bibi & Co. ähnlich. Inhaltlich sympathisiere ich mit ihnen heftig, aber als Wissenschaftler und vehementer Befürworter der repräsentativen Demokratie bewerte ich sie als Versuch, unliebsame Ergebnisse der Repräsentativen durch die direkte Demokratie umzustoßen.

»Als Demokrat habe ich jeden Mehrheitswillen zu akzeptieren.«

Michael Wolffsohn

Systembruch nennt man das, Demokratie à la carte. Diasporajuden, die nicht nur mit Worten, sondern mit Taten für Israels Demokratie kämpfen wollen, haben diese Möglichkeit: Alija nach Israel – sowie dort wahlkämpfen und wählen.

Jeschajahu Leibowitz, das (bislang?) letzte jüdische Fast-Universalgenie, sagte bereits im Herbst 1967 voraus: »Die fortwährende Besatzung der Gebiete wird uns alle brutalisieren. Fast alle.« Wie wahr. Das ist die eine Seite. Die andere: Nicht erst seit 1967, sondern seit jeher muss Israel, müssen unsere Brüder und Schwestern, ihre staatliche Existenz ideologisch, politisch und militärisch rechtfertigen und verteidigen. Der Blutzoll ist hoch. Es gab seit 1967 nachweisbar diverse Versuche israelischer Regierungen, »Land für Frieden« einzutauschen. Zuletzt 2005, als der Gazastreifen geräumt wurde. Statt Frieden bekommen die Israelis seitdem Raketen. Auch das brutalisiert. Uns Diasporajuden nicht, denn wir haben es kuschelig: In Westeuropa 4000 und in New York 9000 Kilometer von Gaza und Messer- sowie anderen Terrorakten entfernt.

Theokratisierung Die meisten jüdischen Israelis, zumindest die Wähler von Bibi & Co., emanzipieren sich auch von uns Diasporajuden. Sie brauchen (und bekommen) immer weniger Geld von uns. Wichtiger: Die vielen orientalischen Juden mögen uns Aschkenasim so wenig wie die meisten von uns sie. Sie sind auch viel religiöser als wir. Auf unsere Eitzes beziehungsweise Beckmessereien pfeifen sie deshalb. Seien wir ehrlich: Vielen Diasporajuden missfallen an und in Israel nicht nur Bibi & Co. Auch die quantitative und qualitative Orientalisierung der jüdischen Gesellschaft.

Ebenfalls groß die Distanz zur Theokratisierung Israels. Die Machtergreifung der säkularen Extremisten stößt ebenfalls ab. Verständlich. Auch demokratisch? Schöne Demokraten seid ihr mir … Freunde, halb schwanger beziehungsweise halb demokratisch geht nicht. Vergesst nicht: So sehr uns die israelische Emanzipation – und den Israelis unsere von ihnen – missfällt, so klar ist: In der Diaspora bläst uns der Wind ins Gesicht – und vielleicht bald fort. Wohin? Nach Israel. Zum einzig wirklichen Selbstschutz. Dort können wir dann für die Demokratie kämpfen – als Wähler und Akteure, nicht nur als Eitzesgeber aus (noch) relativ sicherer Entfernung.

Michael Wolffsohn war 2017 deutscher Hochschullehrer des Jahres. Im Jahr 2022 erschien sein Buch »Eine andere Jüdische Weltgeschichte«.

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